Zu viele Fehlanreize im Gesundheitswesen
Gastkommentar in der NZZ von Angelo Eggli
Einem bevorstehenden Vulkanausbruch gleich, steigen im Innern unseres Gesundheitswesens die Temperaturen und der Druck an. Auf der einen Seite die Patientinnen und Patienten, die mit den Prämien die Limiten ihres Familienbudgets erreichen – die kantonalen Töpfe für die individuellen Prämienverbilligungen müssen laufend vergrössert werden, und was die Prämienzahler nicht mehr stemmen können, müssen die Steuerzahler übernehmen.
Auf der anderen Seite die Leistungserbringer, die personell und finanziell an Grenzen stossen. Viele Spitäler seuchen sich von Jahr zu Jahr durch. Aus eigener Kraft kommen sie nicht aus dem Finanzschlamassel heraus. Einzelne haben ihr Eigenkapital aufgebraucht und benötigen dringend Geld. Die Kantone müssen auch hier tief in die Tasche greifen.
Wir brauchen einen Paradigmenwechsel in unserem Gesundheitswesen. Nur eine Veränderung der Versorgungsstruktur macht eine fundamentale Neuausrichtung möglich. Denn der Fokus in unserem Gesundheitssystem muss auf dem Gesundsein und -bleiben liegen, nicht – wie bisher – auf dem Kranksein.
Unser Gesundheitswesen ist heute ein eigentliches Fehlanreizsystem, Quantität statt Qualität wird honoriert. Die Leistungserbringer verdienen an der Mengenausweitung. Ob Patientinnen oder Patienten gesund bleiben, ist nicht zentral. Folglich gilt: Krank sein rentiert sich für die Leistungserbringer. Der Grundsatz müsste umgekehrt lauten: Gesund sein und bleiben. Die Leistungen müssen dabei alle aus einer Hand kommen. Das Modell der integrierten Versorgung kann genau dies leisten, es kann Wirkungseffizienz und Leistungsqualität miteinander verbinden. Immer mit dem Ziel, bessere Behandlungsergebnisse zu erzielen, ein besseres Arbeitsumfeld für die Beschäftigten zu schaffen und damit ein verbessertes Gesundheitswesen zu entwickeln.
Integrierte Versorgung heisst: Eine Gesundheitsorganisation steuert das Zusammenspiel aller Beteiligten zentral. Dies beginnt beim medizinischen Personal, das aufeinander abgestimmt wird und mit einheitlichen Prozessen sowie IT-Systemen und -Plattformen arbeitet. Der Informationsfluss muss jederzeit und zum Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten garantiert sein und die unmittelbare, zielgerechte und wirksamste Behandlung möglich machen.
Das Vergütungssystem in der integrierten Versorgung setzt die richtigen Anreize, weil die Gesundheitsorganisationen in der Budgetverantwortung stehen. Die Gesundheitsorganisation muss mit der fix vorgegebenen Finanzierung haushälterisch wirtschaften und hat ein Interesse daran, dass ihre Kundinnen und Kunden gesund sind, gesund bleiben und schnell gesund werden. So wird sichergestellt, dass die wirksamsten Leistungen in optimalem Umfang und möglichst effizient erbracht werden. Die Leistungserbringer sind darum, anders als im herkömmlichen System, nicht mehr daran interessiert, möglichst viele medizinische Eingriffe durchzuführen.
Damit rücken sowohl Qualitäts- als auch Kostenaspekte in der medizinischen Leistungserbringung stärker ins Zentrum. Das Streben nach Leistungs- und Mengenausweitung wird durch ein zielführendes Qualitätsbewusstsein, eine konsequente Wirkungsorientierung und eine konsequente Kontrolle ersetzt. Die Steuerung von Leistungen und Kosten wird damit systematisiert; Fehl- und Überbehandlungen werden vermieden.
Mit der integrierten Versorgung tritt so ein für die Patientinnen und Patienten attraktives Modell in Konkurrenz zum bisher üblichen Versicherungs- und Behandlungskonzept, das uns mit seinen Fehlanreizen in die Bredouille gebracht hat. Mit verstärktem Wettbewerb und Kostentransparenz können wir das eher innovationsfeindliche und auf Besitzstandwahrung ausgerichtete Gesundheitssystem dynamisieren. Es ist wichtig, dass der Markt spielt und Wettbewerb herrscht. Denn dann ist erfolgreich, wer Mehrwert zu einem vernünftigen Preis bietet. Die integrierte Versorgung nimmt diesen Wettbewerb auf. Sie kann die richtige Behandlung sein für unser erkranktes Gesundheitswesen.
Angelo Eggli ist CEO der Krankenversicherung Visana.
Aus dem E-Paper vom 15.03.2023