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Zehn Jahre Human Brain Project: Das europäische Grossprojekt hat die Hirnforschung auf eine neue Stufe gehoben

Der Start des Human Brain Project war holprig. Nun bietet es Wissenschaftern aus aller Welt ein komplexes elektronisches System, um die Aktivität des Gehirns zu simulieren. Davon profitieren schon heute Patienten mit schweren Erkrankungen.

Das Human Brain Project hat bei seinem Start im Jahre 2013 in den Medien grosse Wellen geschlagen: Ein menschliches Gehirn sollte «in silico» – also am Computer – nachgebaut werden. Das klang visionär, für einige Beobachter gar wahnwitzig. Nun geht das europäische Grossprojekt zu Ende. Sein Wandel über die Jahre illustriert, was Hirnforschung im 21. Jahrhundert ausmacht.

Wie das Gehirn genau funktioniert, wie komplexe Phänomene wie das Bewusstsein entstehen und wie das Gehirn menschliches Erleben und Verhalten steuert, ist bis heute nicht abschliessend geklärt. Doch es gibt grosse Fortschritte zu verzeichnen. Und diese könnten bald den Weg hin zur Anwendung am Patienten – etwa mit Depressionen oder Epilepsie – ebnen.

Die ursprüngliche Vision, ein Gehirn zu erschaffen

2013 war das Versprechen des Human Brain Project nicht nur visionär, sondern sein Forschungsansatz auch revolutionär: Das Gehirn sollte aus seinen kleinsten Bausteinen, den Zellen, nachgebaut werden. Dann wollten die Forscher beobachten, wie die Zellen im so geschaffenen System interagierten. «Emergenz» nennen Wissenschafter das Phänomen, wenn Einzelteile sich so organisieren, dass etwas grundsätzlich Neues entsteht. In diesem Fall sollte so die Funktionsweise des Gehirns fassbar werden.

Der methodische Ansatz des Neurowissenschafters Henry Markram von der ETH Lausanne, der damals das Grossprojekt leitete, war schon in der Phase der Bewerbung um die europäischen Forschungsgelder umstritten. Viele Wissenschafter zweifelten daran, dass dieses Vorgehen die Hirnforschung weiterbringen würde. Die Kritik und die Befürchtung, das Vorhaben würde zu viele Forschungsgelder binden, gipfelte in einem offenen Brief von über 200 Wissenschaftern.

Das Projekt war, kaum begonnen, in der Krise. In aller Eile wurden führende Forscher zu Rate gezogen. Der englische Neurowissenschafter Karl Friston, eine Autorität auf dem Gebiet der theoretischen Neurowissenschaften, erinnert sich: «An einem 24. Dezember flog ich zu einer Krisensitzung.» Es sollte die erste von vielen sein. Auf die Frage, wer denn heute in den Neurowissenschaften den ursprünglich propagierten Ansatz verfolge, antwortet er: «Ich kenne niemanden.» Markram musste 2014 die Leitung des Projektes abgeben.

Eine Kultur, die viele Forschungsmethoden vereint

Trotz diesem turbulenten Start ist das Human Brain Project heute ein Erfolg. Um die 3000 wissenschaftliche Publikationen sind über die Jahre entstanden. «Anders als oft dargestellt bestand das Projekt nie aus nur einem Ansatz», sagt Katrin Amunts heute. Sie leitet das Projekt seit 2016. Unter ihrer Führung wurden die letzten beiden Tranchen von insgesamt knapp einer Milliarde Euro an Forschungsgeldern bewilligt. Aufgrund der Kritik seien die Forschungsansätze und vor allem die Führungsstruktur des Projekts grundlegend verändert worden, sagt Amunts.

Dr. med. Katrin Amunts ist Direktorin am Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich und Professorin an der Universität Düsseldorf. Sie leitet das Human Brain Project seit 2016.

Dr. med. Katrin Amunts ist Direktorin am Institut für Neurowissenschaften und Medizin am Forschungszentrum Jülich und Professorin an der Universität Düsseldorf. Sie leitet das Human Brain Project seit 2016.

Mareen Fischinger / Forschungszentrum Jülich

Während zu Beginn ein dreiköpfiges Leitungsteam die Entscheidungen dominierte, wurde später das Steuerungsgremium erweitert. «Heute arbeiten wir kollaborativ und demokratisch», sagt Amunts dazu. Mit der Struktur veränderte sich auch die Forschungsphilosophie. Zusätzliche Forschungsansätze, die Denkprozesse im Gehirn untersuchen, wurden in das Projekt integriert.

Darunter etwa ein Projekt, das die Funktionsweise des individuellen Gehirns von Patienten mit schwerer Epilepsie simuliert. Schon heute nutzen einige Ärzte den virtuellen «Gehirnzwilling», um die Quelle epileptischer Aktivität im Gehirn zu finden und ihn anschliessend beim Patienten operativ zu behandeln.

Dies geschieht im Rahmen einer Studie an Patienten. Sie wird zeigen, ob die Patienten nach der Operation unter weniger epileptischen Symptomen leiden als nach einer herkömmlich durchgeführten Operation.

Ebrains verbindet Neurowissenschaft und Informatik

Die Simulation des menschlichen Gehirns, auch auf der Ebene der Zellen, ist auch heute noch Teil des Human Brain Project. Denn ohne die Verbindung von Neurowissenschaft und Informatik ist Hirnforschung heute kaum mehr denkbar.

Doch anders als bei der ursprünglichen Idee von Markram gehen die Neuro-Simulationen theoriegeleitet vor. «Wir simulieren die Funktion des Gehirns mithilfe von funktionellen Algorithmen, beispielsweise der sogenannten Mean-Field-Theorie, und auf der Basis der anatomischen Struktur», sagt Friston. Diese Simulation ergibt also eine Art Theorie, deren Gültigkeit an realen Messdaten getestet und weiter verfeinert werden kann.

Nervenfasern in der sogenannten weissen Substanz des Gehirns. Sie verbinden die Zellverbände in der grauen Substanz des Gehirns. Die Fasern werden mithilfe von sogenanntem Diffusion Spectral Imaging (DSI) sichtbar gemacht.

Nervenfasern in der sogenannten weissen Substanz des Gehirns. Sie verbinden die Zellverbände in der grauen Substanz des Gehirns. Die Fasern werden mithilfe von sogenanntem Diffusion Spectral Imaging (DSI) sichtbar gemacht.

Science Photo Library / imago

Dieser neue Ansatz greift auf unterschiedliche Arten der Hirnvermessung zurück. Zur zellulären Struktur des Gehirns kommen auch die einzelnen Neuronen und die Verbindung zwischen Zellpopulationen hinzu.

Der neue Ansatz, der Anatomie und Funktion in einer Simulation des menschlichen Gehirns kombiniert, machte eine neue technische Infrastruktur notwendig. In ihr sollte die riesige Datenmenge zusammengeführt werden können. Mit den gebündelten Ressourcen des Human Brain Project ist diese Rechenumgebung nun geschaffen worden. Ebrains, wie die Plattform heisst, ist heute eine der Hauptleistungen des Projekts.

Ebrains macht Forschungsdaten allen Wissenschaftern zugänglich

Ebrains ist mehr als eine Server-Infrastruktur. Der norwegische Mediziner und Neuroinformatiker Jan Bjaalie ist der Direktor der Infrastruktur des Human Brain Project und einer der Leiter der Ebrains-Plattform. Er betont, es handle sich um eine Plattform, die neben der Datenspeicherung unterschiedliche Dienstleistungen und Rechenumgebungen anbiete.

Wissenschafter können über Ebrains beispielsweise auf die neuesten verfügbaren Gehirn-Atlanten zugreifen. Sie enthalten nicht nur die Struktur des Gehirns, sondern sind eine Art «funktionelle Landkarte», die zusätzlich die möglichen Interaktionen zwischen den Gehirnzellen enthält. So sind beispielsweise die Fortsätze der Zellen mit einer Auflösung von wenigen Mikrometern dargestellt.

Darüber hinaus finden Hirnforscher auf der Plattform virtuelle Rechenumgebungen, die die Funktionsweise von Zellen und Zellverbänden simulieren. Und Wissenschafter können auf einen sogenannten neuromorphen Computer zugreifen. Dieser arbeitet schneller und energiesparender als herkömmliche Rechner, weil er der Funktionsweise des Gehirns nachempfunden ist. Seit nunmehr sieben Jahren ist Ebrains auch für Wissenschafter ausserhalb des Human Brain Project zugänglich.

Die Zukunft der Hirnforschung liegt in Big Data

Anders als Plattformen, die im Rahmen der amerikanischen Brain-Initiative entstanden, liege bei Ebrains der Fokus auf der Zusammenführung verschiedener Formen von Daten und den dafür notwendigen Dienstleistungen, sagt Bjaalie.

Was einfach klingt, ist eine fortwährende, knifflige Aufgabe. Die unterschiedlichen Messungen müssten miteinander kompatibel gemacht werden. Und alle auf der Plattform gespeicherten Daten müssen so dokumentiert werden, dass sie auch in Zukunft für weitere Analysen verwendbar seien.

In der Tat waren frühere Versuche, Messungen aus unterschiedlichen Forschungsprojekten zu kombinieren, an der mangelnden Dokumentation und Standardisierung gescheitert. Bei Ebrains sei man schon weit gekommen, doch der Prozess sei noch nicht abgeschlossen, sagt der Neuroinformatiker.

Und Bjaalie skizziert eine Vision, die Big-Data-Analysen wahr werden lassen könnte: In Zukunft könnten Forscher neben den wissenschaftlichen Ergebnissen auch die Daten – mit einer Lizenz von Ebrains – publizieren. Die Datenquelle bliebe so transparent und gleichzeitig das Datenmaterial für weitere Analysen zugänglich. Dass Hirnforscher ihre Daten lediglich auf einem Server der Universität speichern und nur Ergebnisse publizieren, das könnte schon bald eine veraltete Praxis sein.

Das Gremium für Forschungsstrategie der EU (ESFRI) hat Ebrains 2021 in seine «Roadmap» aufgenommen. 10 Universitäten und Forschungszentren in Europa verantworten die Weiterentwicklung von Ebrains zusammen mit 40 weiteren Institutionen, die sich als assoziierte Mitglieder angeschlossen haben. Es sind gute Voraussetzungen, dass Ebrains mit seinen über 160 Werkzeugen der Forschergemeinschaft langfristig erhalten bleibt und weiterentwickelt wird.

Ob sich der kollaborative Ansatz des Human Brain Project in Zukunft bewährt und ob Ebrains – das Kind des Projektes, wie es der Neurotheoretiker Friston nennt – weiter heranreifen wird, wird sich weisen. Doch es scheint, als sei die Zusammenarbeit zwischen Hirnforschern mit der Arbeit am Human Brain Project auf eine neue Stufe gehoben worden.

Wissenschafter präparieren ein Hirn, um die Verteilung der Zellbestandteile zu untersuchen.

Wissenschafter präparieren ein Hirn, um die Verteilung der Zellbestandteile zu untersuchen.