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Wie läuft das Geschäft mit der Gesundheit, Doktor Migros?

Der Detailhändler kauft Hausarztpraxen, Apotheken und Physiotherapieketten am Laufmeter. Den geschäftlichen Sinn dahinter versteht in der Branche niemand.

Supermärkte sind ihr schon lange nicht mehr genug. Seit Jahren breitet sich die Migros mit ihren 98000 Angestellten in immer neuen Geschäftsfeldern der Schweizer Wirtschaft aus. Besonders angetan hat es ihr dabei das Gesundheitswesen.

Von der breiten Bevölkerung weitgehend unbemerkt, ist die Migros zu einer bedeutenden Kraft in diesem gigantischen 85-Milliarden-Markt aufgestiegen. Ihr wichtiges Vehikel dafür heisst Medbase mit Hauptsitz in Winterthur. Das Unternehmen ist in kurzer Zeit zu einer Art Gesundheits-Mischkonzern herangewachsen, in dem inzwischen rund 70 Hausarztpraxen, Apothekenketten mit gut 50 Standorten, mehr als zwei Dutzend Physiotherapie-Praxen, Zahnärzte, Sportmediziner und Gesundheitsberater ihre Dienste anbieten.

Der rasante Aufstieg war Medbase nicht in die Wiege gelegt, als der Physiotherapeut Marcel Napierala zur Jahrtausendwende eine Firma mit ein paar Physiotherapie-Praxen gründete. Heute arbeiten über 3000 Menschen im Unternehmen, der Umsatz beläuft sich auf fast eine halbe Mrd. Fr.

Als Eigentümerin hat die Migros den rasanten Ausbau des Geschäfts finanziert. Was will der orange Riese mit dieser kunterbunten Mischung? Hofft er tatsächlich, mit einem integrierten Angebot die Basis des Gesundheitswesens zu reformieren? Oder bilden die Patienten für den Gesundheitskonzern eher eine Manövriermasse, die man bewirtschaften kann? Die Fragen sind relevant, weil Medbase zum grössten Betreiber von Hausarztpraxen in der Schweiz aufgestiegen ist. Zwar liegt der Marktanteil gemäss dem Unternehmen noch «unter 10%». In manchen Regionen haben die Praxen jedoch eine hohe Bedeutung bei der lokalen Grundversorgung mit medizinischen Leistungen.

Die «NZZ am Sonntag» hat mit einem halben Dutzend Fachleuten aus dem Gesundheitssektor und der Migros gesprochen, die geschäftlich mit Medbase zu tun haben oder hatten. Wir wollten wissen, welche Strategie sie hinter der Expansion erkennen und ob die Migros realistischerweise mit ihren Gesundheitsinitiativen Geld verdient. Der Detailhändler gibt nämlich keine Kennzahlen in nennenswerter Form heraus. Medbase selbst betont auf Nachfrage: «In den letzten Jahren konnten wir trotz Wachstum und wichtigen Investitionen konstant Gewinne erzielen.» Und weiter heisst es: «Unsere Rentabilität bewegt sich wieder auf dem Niveau von 2019. Damit sind wir zufrieden.»

Wiederkehrende Verluste

Die konsultierten Branchenkenner sehen die Lage weniger rosig. Basierend auf ihren Erfahrungen schätzen sie, im besten Fall schreibe Medbase operativ eine schwarze Null. Dies, weil laut Branchenklatsch eine 2020 gekaufte Zahnarztkette eine «veritable Goldgrube» sei. Damit liessen sich vermutete Defizite einer Reihe übernommener Gruppen-Arztpraxen decken, die vor dem Verkauf nachweislich Verluste schrieben. Ein Migros-Insider sagt, dass die Migros unter dem Strich mit ihrer Gesundheitstochter noch keinen Rappen verdient habe, sondern – im Gegenteil – jedes Jahr Verluste in Millionenhöhe einfahre.

Die Skepsis in Bezug auf die angebliche Rentabilität nährt sich auch aus öffentlich zugänglichen Informationen. So musste Medbase ihre gleichnamige Tochtergesellschaft in der Romandie im Sommer 2021 zügig ins Unternehmen fusionieren, weil die Westschweizer Firma überschuldet war. Ein Auszug aus dem Zürcher Handelsregister zeigt, dass sie 2020 einen Verlust von über 4 Mio. Fr. schrieb. Sicher waren die Corona-Jahre keine einfache Zeit für Arzt- und Physiotherapie-Praxen. Doch Medbase Romandie schleppte schon Verluste in Millionenhöhe aus den Jahren vor der Pandemie mit.

Die finanziellen Engpässe des Medbase-Ablegers sind kein Einzelfall. Um das schnelle Wachstum voranzutreiben, kaufte Medbase offenbar immer wieder defizitäre Objekte. So galt die von der Krankenversicherung Swica gestartete Hausarztkette Santémed mit 23 Standorten nach übereinstimmender Beurteilung mehrerer Sachkenner beim Kauf durch die Migros-Tochter 2015 als «tiefrot». Ob diese grossen Praxen inzwischen saniert sind, weiss nur die Medbase-Geschäftsleitung. Doch aus einem Handelsregistereintrag geht hervor, dass Medbase wegen der Übernahme dieser Kette im Jahr 2020 kurzzeitig überschuldet war. Dies sei ein rein buchhalterischer Effekt gewesen, der bereinigt worden sei, sagte Medbase-CEO Marcel Napierala damals zur Winterthurer Zeitung «Landbote».

Überschuldung war ein buchhalterischer Effekt: Medbase-Chef Marcel Napierala

Überschuldung war ein buchhalterischer Effekt: Medbase-Chef Marcel Napierala

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Steht dann zur Abwechslung eine gut geführte, lukrative Einheit zum Verkauf, stellt Napierala offenbar auch den grossen Scheck aus, um zum Zug zu kommen. Für die Apothekenkette Topwell bot er gemäss zwei gut informierten Quellen «wesentlich mehr» als der zweite Interessent. Das Gleiche hört man zum Kauf der Zahnarztkette und zu vier Arztpraxen in Basel und Pratteln, die Medbase erst vor wenigen Wochen übernahm. Die Insider sind sich einig: «Das rentiert nie.» Medbase sagt auf Anfrage, man mache zu den Kaufpreisen keine Angabe, prüfe aber jede Opportunität «sorgfältig».

Daten für Gesundheitsplattform

Die Zweifel am finanziellen Erfolg von Medbase mischen sich mit Skepsis in Bezug auf die strategische Sinnhaftigkeit des Vorgehens. Der ehemalige Strategieberater einer Krankenversicherung sagt: «Ein Haufen zusammengekaufter Arztpraxen in allen möglichen Landesteilen bildet per se noch lange keine Kette, die dank effizienter Führung Kostenvorteile erwirtschaftet.» Von Synergien, die sich dann aus branchenübergreifender Zusammenarbeit beispielsweise von Ärzten und Apotheken ergeben, sei da noch gar nicht die Rede.

Kooperationen wie mit der privaten Spitalgruppe Hirslanden dürften vor allem dem Spitalbetreiber nützen, der von den Medbase-Ärzten finanziell lukrative Patientenüberweisungen für die eigenen Spezialisten erhält.

Unter Fachleuten kursiert der Scherz, dass die Migros via Medbase nach dem Kulturprozent nun ein Gesundheitsprozent eingeführt habe.

Mit Sicherheit denkt die Migros darüber nach, wie sie Kundenkontakte ausserhalb des geschützten Raums der Patientendaten in Umsätze verwandeln kann. Um den vermuteten Datenschatz zu heben, hat sich Medbase in die Entwicklung einer digitalen Gesundheitsplattform gestürzt – in einem Joint-Venture mit zahlreichen anderen Partnern. Compassana heisst das Unterfangen, und es will sich als Eingangstor für alle Gesundheitsfragen von potenziellen Kunden, Versicherten und Patienten etablieren. Gemäss Informationen der «NZZ am Sonntag» fliesst ein mittlerer, zweistelliger Millionenbetrag in den Aufbau.

Dass das alles ausser tollen Powerpoint-Präsentationen jemals einen Nutzen für die Patienten bringen wird, bezweifeln viele Fachleute aus dem Gesundheitswesen. Unter ihnen kursiert der Scherz, dass die Migros via Medbase nach dem Kulturprozent nun ein Gesundheitsprozent eingeführt habe.

Fachleute wie Felix Huber, selbst Arzt und Mitbegründer des Hausarzt-Netzwerks Medix, sind aber besorgt über die Grösse des neuen Spielers unter den Hausärzten: «Mit einer Gruppe aus verschiedenen Hausarztpraxen und Apotheken lassen sich keine grossen Reichtümer anhäufen. Was, wenn die Migros dies eines Tages merkt und das Netzwerk weiterverkaufen will?» Huber fürchtet, dass dann ein guter Teil der Schweizer Hausärzte-Infrastruktur plötzlich zum Investitionsobjekt werde, das eine Rendite liefern soll. Wer garantiere da die qualitativ hochstehende Betreuung der Patienten, fragt der Mediziner und warnt: «Da bildet sich ein Klumpenrisiko für die ärztliche Grundversorgung.» Huber hat seine Vorbehalte in einem offenen Brief in einem Fachmedium publik gemacht. Dort hielt er zu Medbase fest: «Mir fehlt ein Konzept, das mehr beinhaltet, als mit dem grossen Einkaufswagen durchs Land zu rasen.»

Ein hochrangiger Gesundheitsexperte des Kantons Zürich sieht ebenfalls, dass die Massierung von Gruppenpraxen und Apotheken in den Händen von Medbase «ein gewisses Klumpenrisiko» bedeute. Doch er glaubt, die Migros werde mit der Verantwortung «pflichtbewusst» umgehen. Genau dieser Punkt könnte allerdings bald zur Diskussion stehen.

‹Meine Sorge ist, ob so schnelles Wachstum via Akquisitionen überhaupt verkraftbar ist›

Ob die Migros das Feld weiterbearbeiten will, ist alles andere als klar. Der Noch-Migros-Chef Fabrice Zumbrunnen schaffte es 2017 ins Amt, weil er versprach, im Gesundheitsmarkt neue Wachstumsfelder zu eröffnen. Zwischen dem Medbase-Chef Marcel Napierala und Marcel Zumbrunnen entspann sich nach dessen Wahl eine fruchtbare Kooperation: Napierala baute an einem Gesundheitsimperium, Zumbrunnen sorgte für die Finanzen. Als VR-Präsident der Gesundheitstochter segnete er die zahlreichen Übernahmen mit seiner Unterschrift ab. Viele Diskussionen dürfte es nicht gegeben haben. Im über 20-köpfigen Verwaltungsrat der Migros gibt es ausser ihm zurzeit niemanden, der sich im Gesundheitswesen auskennt.

Inzwischen fragen sich allerdings auch Migros-Granden, ob die Expansion wohlüberlegt war: «Meine Sorge ist, ob so schnelles Wachstum via Akquisitionen überhaupt verkraftbar ist», sagt ein Migros-Verwaltungsrat, der namentlich nicht genannt werden will. «Das Management ist zwar top, aber es sind halt auch nur Menschen.»

Der Mentor geht

Die Zweifel sind symptomatisch. Denn die Tage von Fabrice Zumbrunnen bei der Migros sind gezählt Er verlor einen internen Machtkampf und wird das Unternehmen spätestens im Frühling verlassen. Ihm wurde zum Verhängnis, dass das Kerngeschäft der Migros an Boden verliert. Hauptkonkurrentin Coop, aber auch Aldi und Lidl gewinnen Marktanteile, mutmasslich auf Kosten der Migros. Wer Zumbrunnens Nachfolge antritt, ist noch offen. Die Rekrutierung läuft. Sicher ist: Der oder die Neue wird die Kraft darauf verwenden müssen, im Detailhandel das Ruder herumzureissen.

Hat es da noch Platz für Medbase? «Mit Zumbrunnen verlieren Medbase und Napierala ihren Mentor», sagt ein Kenner der Szene. Zwar gibt es derzeit keinerlei Anzeichen für einen Verkauf. Medbase weist die Überlegung von sich und schreibt: «Die Gesundheitssparte ist in der Gruppenstrategie der Migros fest verankert.» Migros-Kenner sagen aber auch: Es würde niemanden überraschen, wenn der neue Migros-Chef zum Schluss käme, dieses Geschäft sei unberechenbar und zu komplex – und er sich schliesslich davon trennen würde. Dann würde Medbase tatsächlich zum Spielball von Spekulanten und mit ihr zahlreiche Arztpraxen in der ganzen Schweiz.