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Wenn die einzelne Behandlung nichts mehr kostet: Bern will das Gesundheitswesen revolutionieren

Im Berner Jura entsteht ein neuartiges Netzwerk von Spital und Ärzten nach US-Vorbild. Es soll die Fehlanreize für Überbehandlungen verschwinden lassen – und damit die Kostenexplosion stoppen.

Vorbild für das Berner Modell: Das kalifornische Gesundheitsunternehmen Kaiser Permanente.

Kommt eine Patientin heute zum Arzt, hat er keinerlei Interesse daran, ihr die gewünschte Behandlung zu verweigern – zumindest ökonomisch betrachtet. Denn dadurch würde er seinen eigenen Umsatz und sein Einkommen schmälern. Der Patientin/Konsumentin tut die Behandlung im Portemonnaie nicht weh, die Krankenversicherung übernimmt ja den Grossteil der Kosten. Und die Kasse hat kaum Möglichkeiten, einen Eingriff zu verhindern, sofern es der Mediziner nicht allzu bunt treibt. Diese Gemengelage führt dazu, dass ein beträchtlicher Teil der Behandlungen in der Schweiz überflüssig ist. Und dass die Ausgaben der Grundversicherung und die Prämien immer weiter steigen.

Ein Ziel der Gesundheitspolitik müsste es deshalb sein, den fatalen Mechanismus zu durchbrechen. Das versucht nun ein neuartiges Projekt im Berner Jura. Drei ungleiche Partner haben sich dafür an den Tisch gesetzt: der Berner Gesundheitsdirektor Pierre Alain Schnegg (SVP), die Privatklinikgruppe Swiss Medical Network (SMN) und die Krankenkasse Visana. Zusammen wandeln sie das Hôpital du Jura Bernois in die Gesundheitsorganisation Réseau de l’Arc um, die sich um die gut 50 000 Bewohner der Region kümmern soll.

Eine Pauschale für jeden Versicherten

Das Revolutionäre dabei ist, dass die Spitäler, Hausärzte oder Spitexdienste, die an das Netzwerk angeschlossen sind, nicht mehr für eine einzelne Behandlung Geld von der Krankenkasse verlangen können. Stattdessen bekommt das Réseau de l’Arc für jede versicherte Person eine Jahrespauschale. Dadurch sollten die Ärztinnen und Ärzte keinen Anreiz mehr haben, möglichst viele und aufwendige Behandlungen durchzuführen. Und die Prävention gewinnt an Wert: Mit jedem Kunden, der gar nicht erst krank wird, macht das Netzwerk Gewinn. Die bessere Vernetzung soll zudem teure Doppelspurigkeiten vermeiden, etwa dass mehrere Ärzte bei einem Patienten die gleichen Röntgenaufnahmen machen lassen.

Die Kopfpauschale deckt auch Leistungen ausserhalb des Netzwerkes, etwa Aufenthalte in einer Rehabilitationsklinik. Der Gesundheitsexperte Felix Schneuwly vom Vergleichsdienst Comparis beschreibt die Funktionsweise eines solchen Systems am Beispiel von Diabetikern: «Werden sie ambulant gut versorgt und werden dadurch Spitalaufenthalte – zum Beispiel wegen Amputationen – verhindert, kommen die unter dem Budget liegenden Kosten dem Netz zugute, das mehr Mittel für das Qualitätsmanagement hat. Aber auch den Versicherten in Form von Prämienrabatten.»

Nach Kalifornien geschielt

Vorbild für das Berner Projekt ist Kaiser Permanente (KP) aus Oakland, Kalifornien. Das Gesundheitsunternehmen hat die sogenannte integrierte Versorgung an der US-Westküste vorangetrieben. 23 000 Ärzte und 39 Spitäler kümmern sich um die gut 12 Millionen KP-Versicherten. Im Verhältnis zur Bevölkerung sind das fünfmal weniger Spitäler als in der Schweiz – mit entsprechend tieferen Kosten.

Bei einem Vortrag vor zwei Jahren sagte Gründer Antoine Hubert, sein Swiss-Medical-Network-Unternehmen wolle nicht das «Kodak des Jahres 2030» werden, also ein Unternehmen, das den technischen Fortschritt verschläft. Der verbesserte Informationsaustausch dank der Digitalisierung ist für Hubert ein Schlüssel zum Erfolg, auch in der Gesundheitsindustrie. SMN sei auf der Suche nach «vertrauenswürdigen Partnern», um die Zukunft des Schweizer Gesundheitswesens zu gestalten und ein Modell à la Kaiser Permanente zu schaffen, sagte Hubert damals.

Diese Partner hat er nun mit der Visana und den Berner Gesundheitsbehörden gefunden. Regierungsrat Schnegg erhofft sich nicht nur eine Entlastung des kantonalen Budgets, sondern auch eine Stärkung der medizinischen Versorgung in der Region. Visana-Verwaltungsratspräsident Lorenz Hess sagt: «Wir diskutieren seit Jahren über kostendämpfende Massnahmen. Jetzt haben wir die Chance, ein Projekt umzusetzen, das in dieser Hinsicht ein Durchbruch ist.» Der Mitte-Nationalrat verspricht sich vom neuen Modell, dass es deutlich tiefere Prämien ermöglicht als die bereits heute bestehenden alternativen Versicherungsmodelle.

«Sehr riskantes Modell»

Doch ist das neue Modell auch für die Patienten ein Fortschritt? Susanne Gedamke, Geschäftsführerin der Schweizerischen Patientenorganisation (SPO), ist skeptisch. Aus Kostensicht sei das Experiment zwar spannend. Aber das Modell werde nur jenen Patienten helfen, die schon jetzt von Managed-Care-Modellen profitierten: eher jüngeren und vor allem gesunden Menschen, die das Gesundheitssystem nicht oft brauchten. «Wenn wir hingegen auf die hochbetagten, multimorbiden oder chronisch kranken Patienten schauen, dann finde ich so ein Modell sehr riskant», meint Gedamke warnend. Sie bezieht sich damit auf die immer wieder von Ärzten geäusserte Kritik: Systeme mit Pauschalen könnten dazu führen, dass nötige Behandlungen nicht durchgeführt werden, um Kosten zu sparen.

Comparis-Fachmann Schneuwly hält solche Befürchtungen in Bezug auf das Réseau de l’Arc nicht für berechtigt. Das Projekt könne nur dann funktionieren, wenn die Patienten gute Erfahrungen mit den medizinischen Dienstleistungen des Netzwerks machten. «Ist das nicht der Fall, spricht sich das schnell herum. Und dann wechseln die Kunden den Versicherer oder das Versicherungsmodell.»

Denn die Bewohnerinnen und Bewohner des Berner Juras haben auch künftig die Wahl: Sie können bei einer anderen Krankenkasse als der Visana versichert bleiben und sich trotzdem im Réseau de l’Arc behandeln lassen. Die Finanzierung der Therapien erfolgt dann jedoch durch die normale Einzelfallvergütung. Auch die Visana bietet weiterhin die traditionellen Versicherungsmodelle an.

Das neue Grundversicherungsprodukt benötigt noch die Bewilligung durch das Bundesamt für Gesundheit. Nach den Plänen der drei Partner soll es der Bevölkerung des Berner Juras für das Jahr 2024 zur Verfügung stehen.