Vivantes: Eine Suite, viele Möglichkeiten
Vivantes: Eine Suite, viele Möglichkeiten unknown
Künstliche Intelligenz ist längst im Gesundheitswesen angekommen. Diverse Tools können dabei im Klinikalltag unterstützen, etwa in der Bildgebung. Die Möglichkeiten, die die KI in der Bildgebung mit sich bringt, will Vivantes in einer übergreifenden Plattform bündeln. Das ärztliche Personal an Deutschlands größtem kommunalen Klinikkonzern soll dadurch viel stärker in der Befundung und Diagnose unterstützt werden.
Seit August sind am Institut für Radiologie und interventionelle Therapie des Vivantes Humboldt-Klinikums und am Institut für klinische und interventionelle Neuroradiologie im Vivantes Klinikum Neukölln KI-Anwendungen im Einsatz. Perspektivisch sollen sie an allen Standorten eingeführt werden.
„Wenn wir an unsere KI-Initiative denken, ist es nicht der einzelne Fall, sondern die Überlegung, wie können wir in der Breite der Versorgung die Technologie, die uns KI als Werkzeug bietet, mehrwertstiftend an den Patienten bringen“, erklärt Dr. Mina Baumgarten, Leiterin des Ressorts Geschäftsprozesse und Versorgungsinnovation, den Ansatz.
Zunächst stand daher die Überlegung an, welche Anwendungsfälle beziehungsweise use-cases wirklich in der Breite helfen. Die Wahl fiel dabei auf Frakturen, Intrazerebrale Blutungen und Lungenembolien. Bei Frakturen geht es vor allem darum, in Übersichtsaufnahmen auch inzidentelle Frakturen zu finden. Etwa, wenn ein älterer Patient nach einem Sturz eine offene Oberarmfraktur hat, identifiziert die KI sehr schnell beispielsweise eine Rippenfraktur und verweist auf entsprechende Behandlungsoptionen. Bei den anderen Behandlungsfällen gehe es vor allem darum, die Diagnostik zu beschleunigen, um schnell festzustellen, was lebensbedrohliche Aspekte sein können.
In der Praxis werden die Bilder aus Röntgen- oder CT-Untersuchungen automatisch zur Überprüfung an die interne KI-Plattform geschickt. Diese analysiert die Bilder, markiert verdächtige Bereiche und sendet sie innerhalb weniger Minuten zur Unterstützung an die Ärzte zurück. Nach und nach soll es weitere Bereiche geben. Aktuell wird darüber hinaus in der Pathologie KI zur Unterstützung bei der Diagnose von Prostatakarzinomen getestet, im nächsten Schritt die Kardiologie. Zudem gibt es KI-gestützte Risikowarnsysteme, die ärztliches und pflegerisches Personal auf drohende Komplikationen wie Sepsis oder Nierenversagen aufmerksam machen.
Man kann sich das vorstellen wie einen Online-Shop für Algorithmen.
Für die Umsetzung der KI-Suite kooperiert Vivantes im Bereich Bildgebung mit Deepc. Das Unternehmen arbeitet mit weltweit führenden KI-Anbietern zusammen und hostet die KI-Lösungen in einer Cloud-Umgebung. Insgesamt sind mehr als 50 KI-Lösungen integriert. Der Vorteil für die Anwender ist, dass nicht für jedes Thema ein Vertrag mit der einzelnen Firma gemacht werden muss. Wenn nach den bisherigen drei use-cases bei Vivantes noch weitere folgen, ist auch keine tiefe technische Integration mehr notwendig. „Man kann sich das vorstellen wie einen Online-Shop für Algorithmen“, erklärt Nils Alwardt, Leiter des Ressorts IT & Digitalisierung. Im Fokus steht dabei auch, immer die beste klinische Lösung für den jeweiligen Anwendungsfall zu bekommen. Somit ist man auch nicht an ein bestimmtes Produkt gebunden.
Die Kliniker bei Vivantes waren bereits früh in den Prozess involviert und an der Auswahl der Lösungen beteiligt. Alles andere wäre auch nicht sinnvoll gewesen – „Innovationsprojekte funktionieren nur gemeinsam mit den Anwendern“, sagt Alwardt. Zudem gab es Kick-off-Termine und E-Learnings. Für vier Wochen wurden dann in einer Klinik Erfahrungen gesammelt – perspektivisch sollen es aber keine einzelnen Leuchttürme sein, sondern die Projekte skaliert werden und in allen Häusern in den entsprechenden Fachabteilungen zum Einsatz kommen.
Bestmögliche Ergebnisse sind das Ziel
Insgesamt werden die Algorithmen auf Herz und Nieren geprüft. „Die Frage ist natürlich, ob es einen Mehrwert bringt“, sagt Baumgarten, „letztlich müssen wir schon bedenken, dass wir mit den Technologien ein bestmöglichstes Ergebnis unter Berücksichtigung aller Einflussfaktoren haben.“ Bringe ein Tool, was sehr teuer ist, nur wenig Mehrwert oder ein weiteres bei weniger Kosten einen höheren Mehrwert, müssten Entscheidungen getroffen werden. „Ich glaube, dass an vielen Stellen KI Patientensicherheit und auch Personalentlastung mit sich bringen wird“, fährt sie fort.
Man muss etwas Grips reinstecken und die Sache hinterfragen.
Damit das KI-Projekt auch evaluiert werden kann, gibt es für alles ein wissenschaftliches Set-Up mit internen Datenwissenschaftlern. „Wir planen durchaus dazu im Sinne von evidenzbasierter Praxis mit Publikationen beizutragen“, so die Ressortleiterin. Es kam auch vor, dass einzelne Algorithmen zurückgestellt wurden. Trotz Marktreife und Ce-Zertifizierung erwiesen sie sich noch nicht als praxisreif. Die Lösungen wurden dann an die Entwicklung zurückgegeben mit dem Hinweis, nachzuschärfen. Der use-case als solcher wird dabei jedoch nicht aufgegeben. „Inhaltlich aufgeben würden wir das schon aus Prinzip nicht“, bekräftigt Alwardt das KI-Vorhaben. Das Learning dabei sei auch, dass etwas, was zertifiziert auf den Markt kommt, nicht schon automatisch so gut ist, dass man es einem Mediziner, ohne es zu hinterfragen, geben könne. Wie Mina Baumgarten ausführt, sei auch ein wichtiger Aspekt, dass in der klinischen Realität Dinge nicht immer akzeptabel sind, auch wenn sie im Laboruniversum nach Kriterien einer Zertifizierung akzeptabel seien. Mathematisch und auf Basis von Daten funktionieren die Algorithmen sehr solide, was fehlt ist dann noch der Sprung in den klinischen Prozess und die Evaluation, wie nützlich sie wirklich sind. „Man muss etwas Grips reinstecken und die Sache hinterfragen“, so Alwardt.
Blick in die Zukunft
Wo könnte Vivantes mit der Strategie in fünf Jahren stehen? Alle Prozesse könnten mit höherer Qualität und mindestens kostengleich oder mit gleicher Qualität, dabei aber kosteneffizienter, durch KI unterstützt werden. Das sei die Vision für klinische Prozesse. Es gebe viele diagnostische Fragestellungen, „die Liste an Wunschthemen ist sehr lang“, sagt Baumgarten. Das lässt sich auch mit großen Medizintechnikthemen verzahnen – etwa durch KI-gesteuerte Funktionen oder Unterstützung bei der Ausrichtung von Bildaufnahmen. „Ich denke schon, dass wir das, was wirklich Mehrwert bringt, in fünf Jahren implementiert haben“, so ihr Fazit.
Nils Alwardt sieht ebenso Potenzial in der Prozessoptimierung, die sich gar nicht im Bereich des Medizinprodukts bewegt. Es geht dabei auch um Ressourcenallokation, Disposition und Wartezeiten – etwa in den Rettungsstellen. Schon jetzt läuft dazu ein Pilotprojekt, bei dem die Wartezeiten für alle Rettungsstellen online abrufbar sind. Weiter gedacht, könnten die Patientenströme bei Vivantes besser gesteuert werden – etwa bei den Funktionsstellen für EKG oder Labor. Ist die Wartezeit beim EKG beispielsweise sehr lang, könnte ein Algorithmus die Termine umbuchen und die Patienten zunächst ins Labor schicken, wenn es dort freie Ressourcen gibt. „Gerade im Fokus auf Fachkräftemangel, Durchlaufzeiten und optimale Organisation gibt es sehr viele Ansätze, wo man hinsichtlich Prozessoptimierung schrauben kann“, sagt Alwardt.
Es sind Dinge, die wir machen, weil wir daran glauben und sie für medizinisch sinnvoll halten.
Der Blick in die Glaskugel setze jedoch voraus, dass die Finanzierung über das Jahr 2025 hinausläuft. Die KI-Suite wird derzeit mit KHZG-Mitteln finanziert. „Intern tun wir uns schwer, von einem ‚KHZG-Projekt‘ zu sprechen“, sagt Alwardt. Denn die Idee dazu gab es schon vorher. „Es sind Dinge, die wir machen, weil wir daran glauben und sie für medizinisch sinnvoll halten.“ Nach der Finanzierung müsse also geschaut werden, ob sich das Ganze wirtschaftlich trägt und ob der Mehrwert für Patienten wie auch Mediziner so hoch ist, dass weitere Investitionen sinnvoll sind.
Grundsätzlich ist der Berliner Klinikkonzern in puncto Digitalisierung schon gut aufgestellt. Im Rahmen der Reifegraderhebung für den Digitalradar, der Bestandteil der KHZG-Förderungen ist, schnitt das Unternehmen mit 52 von 100 möglichen Punkten ab – und liegt damit weit über dem Bundesdurchschnitt von 33 Punkten.
Luisa-Maria Hollmig 2023. Thieme. All rights reserved.