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Rückzahlungen in Milliardenhöhe an den Gesundheitsfonds erwartet

Rückzahlungen in Milliardenhöhe an den Gesundheitsfonds erwartet
Rückzahlungen in Milliardenhöhe an den Gesundheitsfonds erwartet

Rückzahlungen in Milliardenhöhe an den Gesundheitsfonds erwartet

/dpa

Berlin – Für den Gesundheitsfonds könnte es in den nächsten Monaten einen wahren Geldsegen in Form von Rückzahlungen aus mehreren Prüfverfahren von Krankenkassen geben. Im Raum stehen mindestens 1,5 Milliarden Euro, sehr wahrscheinlich ist es deutlich mehr. Grund dafür sind Rückzahlungsforderungen aus statistischen Auffälligkeitsprüfungen, regulären Einzelfallprüfungen sowie anlassbezogene Einzelfallprüfungen aus den Jahren zwischen 2013 und 2021 des Bundesamtes für Soziale Sicherung (BAS, früher Bundesversicherungsamt BVA).

Besonders die Jahre 2013 bis 2016 sind dabei offenbar mit höheren Rückforderungen belegt. Speziell betroffen dabei soll das AOK-System mit seinen elf regionalen Krankenkassen sein. Allerdings sind die Rückzahlungsbescheide seitens des Amtes noch nicht verschickt worden, obwohl diese bereits im Jahr 2021 erstellt worden sein sollen. Viele Verfahren zu anlassbezogenen Einzelfallprüfungen stünden „kurz vor dem Abschluss, das heißt das BAS wird noch in diesem Jahr und im Laufe des nächsten Jahres“ entsprechende Korrekturbescheide verschicken, hieß es auf Anfrage des Deutschen Ärzteblattes. Und weiter: „Das BAS rechnet im Verlauf der nächsten beiden Jahre mit einem erhöhten Korrekturvolumen im Vergleich zu den Vorjahren.“

Zum Hintergrund: Das BAS muss nach Paragraf 273 SGBV „Sicherung der Datengrundlagen für den Risikostrukturausgleich“ die Codier- und Abrechnungsdaten der Krankenkassen prüfen. Auf dieser Grundlage der Daten wird berechnet, welche Gelder die Krankenkassen an den Gesundheitsfonds abführen müssen. Die Prüfung kann jährlich erfolgen, verdachtsunabhängig, aber auch bei statistischen Auffälligkeiten. Dabei wird in drei Prüfarten unterschieden: statistische Auffälligkeitsprüfungen, aus denen reguläre Einzelfallprüfungen resultieren können sowie anlassbezogene Einzelfallprüfungen.

Dabei wird beispielsweise geprüft, ob ärztliche Diagnosen und der dazugehörige Code bei den Krankenkassen mit der allgemeinen Krankheitslast in der Bevölkerung zusammen passen. Ist dies nicht der Fall, prüft das BAS. Besonders in den Jahren 2013 bis 2016 gab es einen deutlichen Anstieg an Diagnosen, die später als „Up-Coding“ bezeichnet wurden und den beteiligten Krankenkassen deutlich mehr Gelder aus dem Gesundheitsfonds zugeteilt haben, als die Krankheitsschwere der Versicherten in Wirklichkeit war. Die sogenannte Codierberatung von Krankenkassen an Praxisinhaber war damals in aller Munde.

Mit dem Heil- und Hilfsmittelgesetz (HHVG) aus dem April 2017 wurde die Codierberatung als unzulässig erklärt, auch das damalige Bundesversicherungsamt erklärte das „Up-Coding“ mehrfach als unzulässig. Praktisch soll es aber an der ein oder anderen Stelle weiter gegangen sein.

Prüfungen noch nicht abgeschlossen

Entsprechende Prüfungen hatte das Amt für verschiedene Krankenkassen für die Jahre 2013 bis 2016 eingeleitet, viele sind aber noch nicht abgeschlossen, heißt es vom BAS. Einige Krankenkassen erhielten entsprechende Bescheide, und zahlten teilweise dreistellige Millionen-Summen an den Fonds zurück. Bei anderen dauert die Prüfung noch an. Da nach Aussage des BAS im Jahr 2020 neue Verfahrensregelungen für statistische Auffälligkeitsprüfungen gab, konnte erst 2020 mit der Prüfung des Jahres 2013 begonnen werden. „Diese Prüfung wurden 2021 abgeschlossen“, teilt das BAS auf Anfrage mit.

„Aktuell befinden wir uns in der Prüfung des Berichtjahres 2014“, so das BAS weiter. Das BAS weist selbst darauf hin, dass nach der „förmlichen Feststellung, ob eine unmittelbare oder mittelbare Einwirkung der Krankenkasse auf die Leistungsdaten stattgefunden hat“ zunächst eine Anhörung der betroffenen Krankenkasse stattfindet. Zeitgleich werde der entsprechende Korrekturbetrag ermittelt, zu dem ebenso eine Anhörung stattgefunden hat. „Bescheide werden erlassen, sobald die rechtlichen Voraussetzungen dafür erfüllt sind.“

Und das steht offenbar kurz bevor, denn einige Verfahren aus der „anlassbezogenen Einzelfallprüfung“ stünden „kurz vor dem Abschluss“, so das BAS. Und weiter: „Diese Prüfungen sind für das Berichtsjahr 2013 sowohl für die betroffenen AOKen als auch für die anderen Krankenkassen – von vier Fällen abgesehen – noch nicht abgeschlossen.“

Für das Jahr 2014, das aktuell sich in der Prüfung durch das BAS nach eigener Aussage befindet, sind nun erstmals Zahlen aufgetaucht. In den Sommermonaten stand eine Liste über die „monitäre Dimension der Auffälligkeitsprüfung gemäß Paragraf 273“ für kurze Zeit beim GKV-Spitzenverband online. Demnach muss allein aus dem AOK-System 503,2 Millionen Euro für dieses Berichtsjahr 2014 zurückgezahlt werden. Die Liste liegt dem Deutschen Ärzteblatt vor.

Besonders die AOK Hessen (155,9 Millionen Euro) die AOK Baden-Württemberg (148,4 Millionen Euro) sowie die AOK Bayern (73,2 Millionen Euro), die AOK Nordost (65,5 Millionen Euro) und die AOK Sachsen-Anhalt (27,2 Millionen Euro) sowie die AOK Plus (21 Millionen Euro) müssen hier offenbar zurückzahlen. Laut der Liste sind auch andere Krankenkassen bei den Prüfungen des BAS aufgefallen: So muss die BKK VBU 4,8 Millionen Euro zurück zahlen, die Knappschaft (KBS) 11 Millionen Euro. Insgesamt umfasst die Liste für das Jahr 2014 520 Millionen Euro Rückzahlungsforderungen an den Fonds. Zur Erinnerung: Das Jahr 2014 wird nach Aussage des BAS „derzeit geprüft“, Anhörungen und Bescheide gibt es noch nicht.

In der Szene wird davon gesprochen, dass es rund 1,5 Milliarden Euro sein sollen, die hier allein für die ersten Prüfjahre zurück gezahlt werden müssen – die Gelder gehen zurück an den Gesundheitsfonds und damit auch zurück an alle anderen Kassen. Zudem wurden die Jahre 2015 und 2016 wurden noch nicht geprüft – haben aber nach Angaben von Insidern eine ähnlich hohe Fehlerzahl mit ähnlich hohen Summen als Rückforderung. Das BAS teilt mit, dass die „Verfahren der Statistischen Auffälligkeitsprüfungen aller Krankenkassen für das Berichtsjahr 2015 derzeit vorbereitet“ werde.

„Ungeachtet dessen“ werde an anlassbezogenen Einzelfallprüfungen gearbeitet, „deren Fokus aktuell auf den Berichtsjahren 2015 bis 2017 liegt.“ Das sind die Jahre, in denen das „Upcoding“ gesetzlich noch nicht verboten war.

Die offenbar hohen Rückforderungen sorgen derzeit mehrere Krankenkassen, vor allem, weil die Bescheide über die inzwischen bis zu neun Jahre zurückliegenden Geschäftsjahre wieder in die Haushalte eingebucht werden müssen.

Vorbereitung auf Rückforderungen

Doch für diese hohen Rückforderungen scheint sich das AOK-System finanziell gewappnet zu haben: Wirft man einen tiefen Blick in die Bilanzen der Krankenkassen, stellt man beispielsweise in der Jahresendrechnung 2021 (KJ1 genannt) fest, dass das AOK-System in mehreren Rechnungsposten rund eine Milliarde Euro zurück gestellt hat, alle explizit für Forderungen an den Fonds. So findet man auf dem „Konto 3798 RSA-Korrekturbedarf für Altjahre“ die Summe von 467 Millionen Euro. In einem weiteren Posten werden „Zuweisungen 2021“ mit 490 Millionen Euro verbucht. Das Ergibt 957 Millionen Euro, die in den Hauhalten für die Rückzahlungen stecken.

Zum Vergleich: Die anderen 86 Kassen im GKV-System haben zusammen „nur“ etwa 77 Millionen Euro für diesen Posten von möglichen Rückforderungen eingestellt. Dies geht aus mehreren Aufstellungen hervor, die dem Deutschen Ärzteblatt vorliegen. Auch das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) soll über diese Rückstellungen informiert sein.

Und ein weiteres Detail: Weitere 582 Millionen Euro wurden im Mai 2022 auf drei weiteren Haushaltsposten für Rückforderungen, Korrekturbedarfe sowie „Abweichungsbetrag für Zuweisungen“ gebucht. Dies geht aus den KV45 Zahlen für das zweite Quartal 2022 hervor. Damit wurden die Rückstellungen aus dem Jahr 2021 von 957 Millionen Euro noch mal im ersten Halbjahr um weitere 582 Millionen erhöht.

Dem AOK-Bundesverband sind „die konkreten Rückstellungsbeträge für Prüfungen nach Paragraf 273 nicht bekannt“, hieß es auf Anfrage des Deutschen Ärzteblattes. „Aufgrund der Vielzahl von Sachverhalten, die unter einem Konto geführt werden“ sei dies „grundsätzlich nicht separierbar“, heißt es weiter.

Ein weiteres Puzzlestück ist ein Änderungsantrag zum GKV-Finanzstabilisierungsgesetz, der in diesem Sommer aufhorchen ließ: Unter dem unscheinbaren Titel „Verrechnung von RSA-Korrekturbeträgen“ hieß es: „Zur Sicherstellung der Leistungs-, Wettbewerbs- und Zahlungsfähigkeit wird den Krankenkassen damit ermöglicht, auf einmaligen Antrag die Verrechnung der Korrekturbeträge mit den monatlichen Zuweisungen auf einen Zeitraum von bis zu zwei Jahren in monatlich gleichen Teilbeträgen zu verteilen.“

Aus Kreisen von Krankenkassen sowie aus dem parlamentarischen Umfeld ist zu hören, dass dieser Änderungsantrag, der es auch in das finale Gesetz geschafft hat, aus dem Bundesgesundheitsministerium kam. Die ursprüngliche Prüfbitte zu dem Thema sei aber auf Bitten des Landesgesundheitsministeriums in Brandenburg an das BMG geschickt worden. In Brandenburg ist die AOK Nordost Marktführer unter den Krankenkassen.

Allerdings: Das Geld ist längst auf den Konten des AOK-Systems gebucht, aus aktuellen Haushalten muss dafür nichts bezahlt werden. In Kassenkreisen wird gesagt, diesen Änderungsantrag hätte es daher nicht benötigt. Eine Erklärung wäre nur, dass nicht alle AOKen ausreichend Rücklagen gebildet haben. Denn: „Die Verlängerung der Verrechnungsfrist ist notwendig, da in Einzelfällen die Korrekturbeträge die vorhandenen Finanzreserven der betroffenen Krankenkassen übersteigen können“, heißt es in der Begründung.

Der Entzug von Haushaltsmitteln hat auch eine praktische Folge für ein anderes Detail des GKV-Finanzstabilisierungsgesetz: Denn mit der Bildung von Rückstellungen wurden der Bilanz offensichtlich Vermögen entzogen – mit Auswirkungen auf die Regelungen, dass Krankenkassen Vermögen auch wieder abgeben müssen, wenn dies eine gewisse Schwelle überschreitet. Diesen Sachverhalt zu prüfen, dafür sieht sich das BAS allerdings nicht zuständig: „Für die Finanzaufsicht der landesunmittelbaren Kassen sind die Länder zuständig.“ Und alle elf AOKen fallen unter die Aufsicht der Landesbehörden. © bee/aerzteblatt.de

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