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Neurochirurgie: Wie sich das Uniklinikum Leipzig ein eigenes AR-Navigationssystem bastelt

Neurochirurgie: Wie sich das Uniklinikum Leipzig ein eigenes AR-Navigationssystem bastelt unknown

„Mission impossible“ oder schon bald Alltag im Krankenhaus? Prof. Erdem Güresir steht im Operationsaal und sticht mit dem Finger in die Luft vor ihm. Dann wischt er die Luft etwas zur Seite. Der Kollege neben ihm tippt auch ins Leere. Was aussieht, wie die Szene eines Spielfilms ist die Vorbereitung für einen Testlauf des AR-Navigationssystems für neurochirurgische Eingriffe, an dessen Entwicklung Klinikdirektor Güresir und das Team der Klinik für Neurochirurgie zusammen mit dem Fraunhofer-Kunststoffzentrum Oberlausitz sowie der ISD Group arbeiten. Denn der Neurochirurg Güresir und der Ingenieur Kropla neben ihm im OP des Uniklinikums Leipzig tragen Datenbrillen, die sie gerade aktiviert und auf den vor ihnen auf dem OP-Tisch liegenden Modellkopf ausgerichtet haben.

Blick ins Innere

Der Modellkopf im Leipziger Uniklinikum ist äußerlich komplett unversehrt, doch die Datenbrille ermöglicht einen Blick ins Innere und zeigt auf Wunsch einzelne Strukturen und ihre Position im Schädel an. Führt Chirurg Güresir nun ein Instrument über eine kleine Bohrung in das simulierte Gehirn ein, zeigt die Brille auch dessen genaue Position sowie die umliegenden, teils funktionstragenden, Strukturen.

Wir sehen so die Realität, angereichert um zusätzliche Informationen, die uns das Operieren immens erleichtern können.


„Bisher arbeiten wir beim Platzieren von Kathetern im Gehirn nach Erfahrungswerten und anhand von anatomischen Lehrbüchern praktisch freihändig“, so der Direktor der Klinik für Neurochirurgie am UKL. „Das ist zu 70 Prozent korrekt, aber in 30 Prozent der Fälle gibt es eben doch individuelle Abweichungen. Und die würden wir gern besser sehen können.“

Grundlage für die Arbeit mit der AR-Brille bilden Aufnahmen mit Computertomographen und Magnetresonanztomographen, die über eine von den Leipzigern selbst entwickelte Softwarelösung ausgelesen und mit Hilfe der Brille durch das Gewebe hindurch „ins Gehirn“ projiziert werden. „Das ist ein großer Gewinn, denn wir sehen so die Realität, angereichert um zusätzliche Informationen, die uns das Operieren immens erleichtern können“, erklärt Prof. Güresir.

Zum einen hat der Chirurg dank der Brille beide Hände frei, statt mit einer ein bildgebendes Instrument halten zu müssen. Und zum anderen können dank der eingeblendeten Lagebilder hochsensible Strukturen, die nicht berührt werden sollten, sichtbar gemacht und so noch besser geschützt werden. Kommt der Chirurg diesen zu nahe, wird das angezeigt – im Bild und per Warnton.

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Ein Gewinn bei Notfällen

Die individuellen Abweichungen wären mit der Datenbrille klar erkennbar, und zwar nach einem schnellen CT. Der Weg des Katheters durch das Gehirn würde als Trajektorie, also als Bewegungspfad, virtuell in das Sichtfeld der Neurochirurgen eingeblendet werden und sich über die reale Patientenanatomie legen.

Gerade für Notfälle, so stellt es sich Güresir vor, wäre das ein enormer Gewinn. „Da haben wir keine Zeit für aufwändige Bildgebung und OP-Planung, da muss ein verletztes Gehirn mit einer Drainage schnell entlastet werden, ohne dass wir wichtige Bereiche in Mitleidenschaft ziehen“.

Die Datenbrille könnte dabei direkt im Schockraum der Notaufnahmen zum Einsatz kommen und selbst mit wenig neurochirurgischer Erfahrung ein sicherer Eingriff erfolgen. Auch für Kliniken mit einer weniger modernen Ausstattung als in Europa wäre das eine gute Option für präzise Neurochirurgie. „So eine Brille ist derzeit etwa 100-mal preiswerter als heutzutage übliche computergestützte Navigationssysteme für die Neurochirurgie“, ergänzt Privatdozent Dr. Ronny Grunert.

Vom Prototyp zum Medizinprodukt

Gemeinsam mit Prof. Dirk Winkler als medizinischem Entwicklungspartner arbeitet Ingenieur Grunert bereits seit vier Jahren an der Leipziger Universitätsmedizin an der geeigneten Software. Nun ist ein Prototyp verfügbar, der mit allen gängigen Datenbrillen interagieren kann. „Wir haben die Machbarkeit bewiesen, nun müssen wir unsere Idee so weiterentwickeln, dass daraus ein Medizinprodukt entsteht“, beschreiben die Neurochirurgen Güresir und Winkler das Ziel.

Dafür stehen jetzt 1,4 Millionen Euro Fördergelder der Sächsischen Aufbaubank zur Verfügung. „Wir sind sehr optimistisch, dass wir hier etwas Nützliches entwickeln, dass breit zugänglich sein wird und viele Leben retten kann“, sagt Prof. Güresir. Dann tippt er in die Luft, befiehlt „beenden“ und setzt die Brille ab.

Universitätsklinikum Leipzig/hgl