Massgeschneiderte Lösung: In diesen Cubes sieht Helios das Geschäft der Zukunft
Maßgeschneiderte Lösung: In diesen Cubes sieht Helios das Geschäft der Zukunft unknown
In der Theorie ist alles längst bereit. Dort, wo in Deutschland massiv Hausärzte fehlen, meist in ländlichen Regionen, könnte die Versorgung sofort in sogenannte Cubes verlagert werden. Diese würfelartigen, mobilen Walk-in-Einheiten, die der Klinikkonzern Helios im April 2022 erstmals einer größeren Öffentlichkeit vorgestellt hat, firmieren plakativ als „arztfreie Hausarztpraxen“ – weil sie vor Ort „nur“ Fachkräfte wie etwa medizinische Fachangestellte brauchen. Der Arzt oder die Ärztin wird digital aus der Ferne dazugeschaltet.
Das Cube-Personal ist persönlicher Ansprechpartner für die Patienten und übernimmt unter Anleitung medizinische Untersuchungen, kann zum Beispiel Blut abnehmen und Diagnostik wie Blutdruck- oder EKG-Messungen durchführen. Dabei hält es immer Kontakt zu den angebundenen Telemedizinern. „Je nach Bedarf kann fächerübergreifend jeder Arzt dazu geholt werden, sowohl bei Helios angestellte Mediziner als auch externe“, sagt Enrico Jensch, der COO bei Helios Deutschland ist und als COO von Helios Health auch das internationale operative Geschäft verantwortet.
Die Not durch Unterversorgung ist in Deutschland deutlich schneller viel größer geworden.
Enrico Jensch ist COO bei Helios Deutschland und verantwortet als COO von Helios Health auch das internationale operative Geschäft.
Entstanden ist das Konzept ursprünglich, um mit der hybriden Versorgungsform weltweit zu punkten. Der Cube – der Begriff steht für „Care for you to be“ – war für Gebiete im Ausland gedacht, in denen Mediziner physisch selbst nicht (mehr) vertreten sind. Mittlerweile allerdings hat der Klinikkonzern die operative Umsetzung des Konzepts hierzulande schon weiter vorangetrieben als beispielsweise in Kenia oder Kolumbien, wo aktuell erste Bestandteile zugelassen und erste Piloten angelaufen sind.
Großes Potenzial in der mobilen Cube-Version
„Die Not durch Unterversorgung ist in Deutschland deutlich schneller viel größer geworden“, sagt Jensch. Bundesweit fehlten aktuell rund 5000 Hausärzte – „und im Jahr 2030 werden es 10 000 oder mehr sein“, prognostiziert der Geschäftsführer: „In den Flächenbundesländern sind schon jetzt ganze Landstriche physisch nicht mehr versorgt.“ Deshalb steckt für Helios auch so viel Potenzial in dem Cube-Ansatz, insbesondere in der mobilen Version – und Jensch will den Vorsprung nutzen.
Der Manager sieht sein Unternehmen als „First Mover“ am Markt, schließlich hat er bereits alles an Bord und muss keine Leistung dazukaufen. Der Klinikriese hält aktuell rund 600 Kassenarzt-Sitze und betreibt bundesweit mehr als 240 Medizinische Versorgungszentren (MVZ). Rund 500 MVZ-Ärzte sind bereits der Videosprechstunden-Plattform „Digital Doctor“ angeschlossen. Sie ist die Klammer für das Cube-Projekt und bildet die ärztliche Leistung über eine Beratung und Behandlung in der Videosprechstunde digital ab.
Symptom-Check per Curalie-App
Die dritte Säule ist das Digital-Health-Unternehmen Curalie, an dem Helios beteiligt ist. Die gleichnamige Curalie-App ermöglicht unter anderem einen Symptom-Check, mit dem Patienten gesundheitliche Beschwerden eingrenzen können und über den Algorithmus erfahren, was als weiteres Vorgehen empfohlen wird. Ob sie zum Beispiel direkt eine Notaufnahme aufsuchen sollten oder etwa eine Video-Konsultation über Curalie buchen können.
Nach einer solchen digitalen Sprechstunde könnte ein Cube dann die nächste Anlaufstelle für eine weiterführende Diagnostik sein, der entweder fest an einem Standort aufgebaut werden kann oder alternativ als mobile Einheit von Dorf zu Dorf unterwegs ist.
Hier setzen wir auch auf Signale aus der Politik.
Für das medizinische Know-how im Hintergrund sorgen vor allem die „Digital Doctors“ aus den Helios-MVZ, und „bei momentan rund 250 Videokonsultationen pro Woche haben sie auch noch hinreichend Kapazität“, versichert Jensch. „Durch den erwarteten Wegfall der 30-Prozent Deckelung und das Ermöglichen von telemedizinischer Leistung auch außerhalb der Praxis entstehen ganz neue Arbeitsmodelle“, sagt Timm Schindler, der Executive Director Business Development Europe bei Helios Global Health: „Hier setzen wir auch auf Signale aus der Politik, um durch angepasste Regulatorik neue Weichen in der Versorgung zu stellen.“
Mit dem Modell, für das im Leipziger Cube-Showroom die Praxisversuche laufen, haben Jensch und Schindler vor allem unterversorgte Landkreise im Blick. Da sich die Patienten durch die Curalie-App gezielt lenken lassen, könnten einerseits Rettungsdienste und die Notaufnahmen in den Krankenhäusern entlastet werden. Andererseits schafften die Cubes eine physische Anlaufstelle für die Patienten – mit Fachkräften vor Ort, „ähnlich einer Gemeindeschwester 2.0“, sagt Schindler. „Telemedizin ist zunehmend akzeptiert, aber die Menschen nehmen sie noch besser an, wenn sie irgendwo hingehen können“, ist Jensch überzeugt.
Eine adäquate Vergütungsvariante fehlt noch
Allerdings gibt es für diese Versorgungsform bislang keine adäquate Vergütungsvariante. Derzeit lässt sie sich schlicht nicht finanzieren. „Und die Kassenärztlichen Vereinigungen blockieren noch, wo sie können“, sagt Jensch. Weil er bei den Kommunen jedoch reges Interesse für das Cube-Konzept wahrnimmt, macht er weiter – „die Landkreise müssen für die Versorgung ja etwas anbieten“.
Zudem lassen Referentenentwürfe für drei Gesetze die Hoffnungen in der Helios-Zentrale steigen. „Sie greifen unser Konzept auf und sehen diese Versorgungsform vor“, sagt Jensch: „Das hat den Knoten platzen lassen.“ Idealerweise sei die Idee im Frühjahr 2024 legitimiert und dann erstmals budgetierbar – „und würde nicht länger an kleinteiligen Verharrungsdiskussionen hängenbleiben“.
Das BMG hat die Bedeutung erkannt, und auch die Kommunen sind bereit.
Konkret geht es um das Digitalgesetz, das Gesundheitsdatennutzungsgesetz (GDNG) und das Gesundheitsversorgungsstärkungsgesetz (GVSG), erklärt Timm Schindler: „Wenn wir die Ziele des Gesundheitsministeriums anschauen, soll es in 60 Prozent der unterversorgten Regionen bis 2026 solche neuen Angebote geben – so steht es im Strategiepapier.“ Zudem finde sich in den Referentenentwürfen der Plan, die Obergrenze für Videokonsultationen für Mediziner aufzuheben. Momentan sind Fallzahl und Leistungsmenge auf 30 Prozent begrenzt. Für die Helios-Manager liefern die Gesetzesvorhaben neue Bausteine für ihr Projekt. Das BMG habe die Bedeutung erkannt, und auch die Kommunen seien bereit, sagt Jensch. Seine Beharrlichkeit könnte sich jetzt auszahlen.
Ein Projekt in jedem Bundesland
Im kommenden Jahr, davon gehe er aus, werde es in jedem deutschen Bundesland ein Projekt geben. Recht konkret arbeite sein Team derzeit unter anderem schon im sächsischen Colditz, im Landkreis Kronach in Bayern und im Landkreis Mansfeld-Südharz in Sachsen-Anhalt. Dort wird zunächst mit zwei mobilen Cubes geplant, sagt Schindler: „Damit kann die medizinische Versorgung in zwei Regionen des Landkreises voll erschlossen werden.“
Die Kosten für einen stationären Cube – etwa so groß wie zwei Übersee-Container mit drei Räumen – kalkuliert der Konzern mit 150 000 bis 200 000 Euro. Bei den mobilen Cubes, die etwa der Landkreis Mansfeld-Südharz bekommen soll, sind es rund 135 000 Euro. Im festen Rhythmus sollen sie dort wochentags wechselnde Dörfer anfahren. „So decken wir eine wesentlich größere Fläche ab als mit einem stationären Cube“, erklärt Schindler.
Anfang 2024 könnten die Cubes tatsächlich fahren.
Mobile Cubes sollen in unterversorgten Landkreisen wochentags wechselnde Dörfer anfahren.
Die Fördermittel, die der Landkreis für sein millionenschweres „Regent“-Projekt zum Aufbau und Betrieb eines regionalen Gesundheits- und Notfallzentrums beantragt hat, könnten die Cubes finanzieren. Die übrigen Kosten, insbesondere für das Personal, „wären unser Beitrag“, sagt Jensch. Mittlerweile liefen konkrete Gespräche und Planungen: „Anfang 2024 könnten die Cubes tatsächlich fahren. Das ist jetzt nicht mehr theoretisch und ganz weit weg – jetzt können wir die Nägel einschlagen.“
Warten auf extra Ziffern im EBM
Für ein belastbares Businessmodell fehlen den Helios-Managern allerdings noch die Zahlen. „Es braucht ein suffizientes Finanzierungsmodell, mit dem sich die Medizin nach diesem Modell bezahlen lässt“, sagt Jensch. Adäquate Sätze und extra Ziffern für delegierte Leistungen im Einheitlichen Bewertungsmaßstab (EBM) etwa, auf dessen Grundlage vertragsärztliche Leistungen abgerechnet werden.
Sind diese EBM-Sätze erst einmal festgelegt, will der Helios-COO das Rad auch noch größer drehen. Perspektivisch könnten die Cubes für alle Hausärzte und auch andere Fachärzte Leistungen erbringen.
Ärzte könnten Leistungen an die Cubes delegieren.
„Auch die noch vorhandenen Ärzte sind oft bis an ihre Grenzen ausgelastet – sie könnten Leistungen wie die Blutabnahme oder das Entgegennehmen von Stuhlproben an die Cubes delegieren und sich so selbst entlasten“, erklärt Schindler. Die Langzeit-Betreuung von Diabetes- und Herzpatienten könnte ebenfalls auf diese Art erfolgen. So würden auch die Behandelten profitieren, weil sie für planbare Routine-Maßnahmen nicht mehr lange Wege zu ihrem Arzt zurücklegen müssten.
Auch wenn die Hoffnung steigt, dass all das bald Realität wird – für alle Fälle haben Jensch und sein Team alternativ auch eine „Variante light“ in der Schublade. Dabei wären in jedem Cube zunächst ein Arzt und eine Gesundheits- und Krankenpflegekraft unterwegs. Die mobile Einheit wäre eine Nebenbetriebsstätte eines MVZ, mit einem relativ begrenzten Radius.
Das würde das Potenzial der Idee nicht ansatzweise ausschöpfen, aber mit der Variante wäre der Cube zumindest im Einsatz, und Jensch würde sich alle Optionen offenhalten. Es gehe darum, überall die Versorgung der Patienten sicherzustellen, betont er: „Wir wollen das machen und glauben daran.“
Jens Kohrs (Freier Journalist) 2023. Thieme. All rights reserved.