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KI im Sterilgut-Kreislauf: Diese Technik verhilft Asklepios zu mehr Operationen

KI im Sterilgut-Kreislauf: Diese Technik verhilft Asklepios zu mehr Operationen unknown

Als alles begann, sei das Projekt für ihn eher eine Spielerei gewesen, ein interessantes wissenschaftliches Experiment, sagt Prof. Dr. Klaus Herrlinger. Doch die Zwischenbilanz nach sechs Monaten Live-Betrieb lässt nicht nur den Ärztlichen Direktor der Asklepios Klinik Nord am Standort Heidberg aufhorchen. In einigen Fachbereichen des Maximalversorgers im Hamburger Norden ist jetzt jeden Tag eine Operation mehr drin – weil Künstliche Intelligenz (KI) hilft, die Abläufe im Sterilgut-Kreislauf zu verbessern.

Dafür setzt das Haus in einem 2021 gestarteten Pilotprojekt ein System des KI-Unternehmens Darvis ein. Dessen Team hat in der Klinik zwischen dem Fahrstuhl der Aufbereitungseinheit für Medizinprodukte (AEMP) und den OP-Sälen optische Sensoren installiert. Die Bilder, die sie aufnehmen, werden mit KI-Hilfe verarbeitet und analysiert, so dass sich der Standort der Transportwagen mit Sterilgut-Sieben jetzt jederzeit exakt ermitteln lässt.

Routinegänge, Telefonate und Scannen fallen weg

Auf einem digitalen Dashboard sehen die OP-Koordinatoren beispielsweise in Echtzeit, wo die Wagen sind und wann sie in vordefinierten Zonen eintreffen. Das so gewonnene Wissen ersetze zeitaufwändige Routinegänge und telefonische Abstimmungen zwischen den Abteilungen, erklärt Herrlinger. Auch händisches Scannen falle weg.

Der Ärztliche Direktor und Chefarzt der Inneren Medizin I an der Hamburger Klinik hat das Projekt mit Darvis-Mitgründer und -COO Jan Schlüter angestoßen. Ziel war es, Verzögerungen im OP-Betrieb zu reduzieren. Die KI sollte helfen, unter anderem Unterbrechungen im Materialfluss zu vermeiden und damit die Zeiten zu reduzieren, in denen OP-Instrumente ungenutzt bleiben.

Das ist wirtschaftlich gesehen bemerkenswert, und es ist zudem für die Versorgungsqualität relevant.

„Es geht nicht darum, Mitarbeiter zu ersetzen oder einzusparen“, betont Prof. Dr. Klaus Herrlinger, der das Projekt mit angestoßen hat.

Weil jetzt durch die lückenlose Dokumentation des Weges von der Aufbereitung bis zum OP bekannt ist, wie lange und wo Transportwagen in bestimmten Zonen im OP-Bereich und in der Sterilgutaufbereitung stehen, kann jederzeit reagiert werden – um etwa die Phase zwischen OP-Ende und Wiederaufbereitung des OP-Bestecks zu verkürzen. Das erste Ergebnis sei deutlich weniger Zeitverlust vor OP-Beginn, sagt Herrlinger, „und das ist in hoch-frequenten Bereichen sehr interessant“.

Bei HNO-OPs etwa, in der Augenheilkunde oder in der Unfallchirurgie – überall, wo kleinere, vergleichsweise kurze Eingriffe stattfinden und ein hoher Sterilgut-Durchsatz herrscht. In diesen Fachbereichen sei in seiner Klinik jetzt mindestens ein Eingriff mehr pro Tag möglich, erklärt Herrlinger: „Das ist wirtschaftlich gesehen bemerkenswert, und es ist zudem für die Versorgungsqualität relevant.“

Werden alle Instrumente wirklich gebraucht?

In einem nächsten Schritt könnte das Projekt neben der Zeitersparnis auch den Ressourcenverbrauch senken. „Mithilfe der KI könnten wir analysieren, ob wir alle in den Sieben bereitgestellten Instrumente wirklich brauchen“, sagt Herrlinger. Mit den optischen Sensoren ließe sich genau erfassen, wenn Instrumente im OP bewegt werden: „Manche werden möglicherweise nie genutzt und könnten zukünftig weggelassen werden – das wäre ein großes Einsparpotenzial ohne Qualitätsverlust.“

Das Darvis-Team hat seine KI genau darauf vorbereitet – monatelang, in einem ungenutzten Teil einer Station. Aktuell wird das Programm auf rund 10 000 Instrumente trainiert, und es erkennt Teile aus OP-Stahl sogar, wenn sie in metallenen Sieben liegen. Das soll noch weiter vertieft werden und mittelfristig auch beim Bestücken der Siebe in der „Steri“ helfen.

Die KI ist eine unabhängige und unbestechliche Unterstützungsinstanz, und sie wird nicht müde.

Hier kommen für unterschiedliche OPs unterschiedliche Instrumente zum Einsatz. Sind die OP-Siebe vollständig bestückt? Sind falsche Instrumente im Sieb? Schließlich sollen im OP wirklich genau die Instrumente bereitstehen, die für einen Eingriff benötig werden. Zurzeit komme es immer mal wieder vor, dass den Chirurgen im OP etwas fehle, sagt Herrlinger. Dann müsse Ersatz beschafft werden, und es komme zu Verzögerungen und Wartezeiten.„Die KI ist eine unabhängige und unbestechliche Unterstützungsinstanz, und sie wird nicht müde“, erklärt der Chefarzt und betont: „Es geht nicht darum, Mitarbeiter zu ersetzen oder einzusparen.“ Die Bestückung der OP-Siebe werde weiterhin durch die Mitarbeiter der AEMP geschehen. Die Technik unterstütze sie vielmehr und erhöhe die Sicherheit. Da, wo sie schon jetzt zum Einsatz kommt, hätten sich für die Beschäftigten auch die Abläufe im Haus nicht verändert, sagt Herrlinger – die KI werde nebenbei angewandt, ohne dass sie die Teams behindere, „im Gegenteil“.

So wird der Sterilgutkreislauf KI-gestützt verfolgt.

Auch um seine Persönlichkeitsrechte müsse niemand fürchten, betont Darvis-Chef Schlüter: „Aufgenommene Bilder werden sofort anonymisiert. Ein Aufschluss über Personen ist nicht möglich.“ Bilder und Objekte, erklärt Schlüter, werden dabei zu Informationen über Ort, Zeit und Status: „Der Datenschutz bleibt vollständig gewährleistet.“

Einsatz in der AEMP wird ebenfalls vorbereitet

Davon hat sein Team auch die jeweils zuständigen Betriebsräte überzeugt, so dass der Einsatz der Sensoren innerhalb der AEMP nun ebenfalls in Arbeit ist. Sind die Sensoren auch dort installiert, lässt sich der Weg des reinen Sterilgutes von der „Steri“ zum OP und als unreines Sterilgut zurück zur AEMP lückenlos verfolgen. „Wir sehen alles, was der Mensch sieht, nur besser und genauer“, sagt Schlüter. Die Analyse der Sensor-Bilder schaffe Transparenz über sonst weitgehend unsichtbare Prozesse.

Dieses Computer Vision genannte Feld der KI kommt in mitarbeiter- und patientennahen Bereichen von Krankenhäusern noch selten zum Einsatz. „Im Fokus steht immer, die KI zu nutzen, um Prozesse zu optimieren und die Produktivität zu steigern“, sagt Schlüter. In Amerika zähle Darvis bereits einige Klinikbetreiber zu seinen Kunden, die Organisation AdventHealth etwa sowie die University of Miami Health Systems. In Deutschland geht es langsamer. „Der Sektor ist konservativ und zögerlicher. Die Überzeugungsarbeit braucht ihre Zeit“, sagt Schlüter.

KI checkt Infusionsflaschen und die Bettenreinigung

Dabei verspricht er „sofort volle Such- und Sichtbarkeit der Räume, in denen wir aktiv sind“. Vieles sei denkbar, um das Personal zu entlasten, zum Beispiel automatische Benachrichtigungen, wenn Infusionsflaschen leer sind, wenn Patienten ihr Essen aufgegessen haben, oder wenn jemand stürzt. „Wir haben Adleraugen“, sagt Schlüter. Die machen sich auch beim Betten- und Materialtracking bezahlt. Für aufwendige Routineaufgaben wie die Suche nach freien Betten oder medizinischen Geräten sowie die Dokumentation und Weitergabe von Standort und Zustand könne Künstliche Intelligenz „verlässlich einspringen“.

Wir haben Adleraugen.

„Der Datenschutz bleibt vollständig gewährleistet“, sagt Darvis-COO Jan Schlüter.

Schlüter setzt sie zum Beispiel auch ein, um die Bettenreinigung zu überprüfen. Dafür wird eine komplette Liste aller Tätigkeiten erstellt, die zu erledigen sind, bis ein Bett wieder einsetzbar ist. Erst wenn bei der Analyse der Sensor-Bilder all diese Schritte erfasst sind, wird ein Bett der Kategorie „Gereinigt“ zugeordnet. Ansonsten erfolgt eine Problemmeldung. Bislang liegt diese Abnahme bei den reinigenden Personen selbst, die KI könnte ihnen das abnehmen und checken, ob wirklich an alles gedacht wurde. „Wir sehen uns als Kollege, der hilft“, betont Schlüter.

Die Asklepios Klinik Nord ist sein Deutschland-Beispiel. Das Haus hat die für das Projekt bislang benötigten optischen Sensoren gekauft, für die KI-Nutzung zahlt es Darvis eine monatliche Gebühr. Gespräche mit weiteren deutschen Klinik- sowie Pflegeheimbetreibern laufen – zu diesen und anderen Anwendungsmöglichkeiten, sagt Schlüter. Die Plattform sei flexibel, und es gebe viele Use Cases: „Wir analysieren genau die Daten, die für unsere Kunden wichtig sind, und können schnell Antworten auf spezifische Fragestellungen liefern.“

Ich war überrascht, wie schnell die KI lernt.

Sein Unternehmen mit Hauptsitz im amerikanischen Nashville-Tennessee hat mit Herrlinger und der Hamburger Klinik in der Coronapandemie bereits einen automatisierten Schutzkleidungs-Check entwickelt. Die Computer Vision war nach Training der einzelnen Komponenten der Schutzausrüstung in der Lage, das korrekte Anlegen von persönlicher Schutzkleidung wie Mund-Nasen-Schutz, Handschuhen, Schutzbrille und -kittel sowie Kopfbedeckung zu überprüfen.

In der Folge musste die Klinik auf der Coronastation weniger Kollegen für die gegenseitige Kleidungs-Kontrolle abstellen und konnte sie vielmehr für die Patientenversorgung am Bett einsetzen. Chefarzt Herrlinger hat die Technik spätestens da überzeugt und beeindruckt: „Ich war überrascht, wie schnell die KI lernt. Das ist wirklich faszinierend, und es macht großen Spaß, diese Technik mitzuentwickeln.“

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