Großes Potenzial: Warum jede Klinik ihren eigenen KI-Kompass haben sollte
Großes Potenzial: Warum jede Klinik ihren eigenen KI-Kompass haben sollte unknown
Die Wege der Künstlichen Intelligenz (KI) führen zurück bis in die 1950er Jahre. Entwickler machten es möglich, dass zwei Computer ohne menschliches Zutun miteinander kommunizieren konnten. Seither ist viel passiert. Die heutige Form der Künstlichen Intelligenz haben wir vor allem vier großen Entwicklungen zu verdanken:
- Enorm große Datenmengen stehen für Training zur Verfügung.
- Spezielle Grafikprozessoren (GPU) ermöglichen erst die Durchführung rechenintensiver Funktionen mit Parallelarchitekturen.
- Cloud-Computing erlaubt kostengünstiges Speichern von enorm großen Datenmengen.
- Algorithmische Open-Source-Entwicklungsmodule sind für jeden frei zugänglich.
Weniger Fehldiagnosen
Dadurch entwickelten sich „intelligente Maschinen“ oder Technologien, die Funktionen des menschlichen Gehirns nachahmen und menschliche Fähigkeiten wie visuelle Wahrnehmung, Spracherkennung und Problemlösung nachbilden können. Künstliche Intelligenz hat die Fähigkeit zu lernen, zu verstehen und dann zu handeln. Neuronale Netzwerke, ähnlich dem menschlichen Gehirn, werden simuliert, um Algorithmen zu erstellen, die aus riesigen Datenmengen lernen und Systeme lehren können, Aufgaben selbstständig durchzuführen. Grundlage bilden also künstliche neuronale Netze, in der Medizin gerne mit dem Schlagwort „Deep Medicine“ betitelt.
Das Paradoxe daran ist, dass es viel einfacher ist, Algorithmen für anspruchsvolle, kognitive Aufgaben zu entwickeln als Maschinen zu bauen, die zum Beispiel motorische Bewegungen eines Säuglings nachahmen. Bei kognitiven Aufgaben wie beispielsweise der Analyse von endoskopischen Videos zur Erkennung von bösartigen Darmpolypen des GI Genius-Systems kann uns die Künstliche Intelligenz jetzt schon viel Arbeit abnehmen und sich durch Berge von Daten wühlen, ohne jemals müde zu werden, und weniger Fehldiagnosen liefern.
Roboter operiert besser als Menschen
Nun stellt sich die Frage: Welche Tätigkeiten können durch Künstliche Intelligenz übernommen, das heißt, welche Aufgaben können automatisiert werden? Hierfür müssen wir die verschiedenen Stufen der Automatisierung verstehen:
- Stufe 1: Nur Menschen: keine Künstliche Intelligenz beteiligt
- Stufe 2: Schattenmodus: der Arzt als „Lehrer“ und die Künstliche Intelligenz als „Schüler“
- Stufe 3: Künstliche Intelligenz als Assistent
- Stufe 4: Teilweise Automatisierung
- Stufe 5: Vollständige Automatisierung
Besonders im Fokus der Diskussion steht die vollständige Automatisierung. Die Sorge, dass Künstliche Intelligenz den Arzt oder Operateur ersetzt, ist (noch) sehr groß. Viele rechtliche Aspekte, wie beispielsweise die Haftungsfrage bei Behandlungsfehlern sind ebenso ungeklärt wie ethische Fragen.
Bereits 2022 führte ein Roboter der Johns-Hopkins-Universität eine vollautomatisierte laparoskopische Operation am Schwein durch. Der STAR-Roboter hat eigenhändig zwei Darmenden miteinander vernäht. Die Ergebnisse waren besser als bei den menschlichen Operateuren. Dies zeigt, dass zukünftig Ärzte im Vorteil sein werden, die sich von Künstlicher Intelligenz unterstützen lassen und sie bei Bedarf als ein Hilfsmittel einsetzen. Und es zeigt auch, dass die Entwicklung schneller voranschreiten wird als viele annehmen.
Vorteile für Dermatologie, Radiologie und Ophthalmologie
Doch welche Fähigkeiten lohnt es sich auszulagern? Welche Fachbereiche zeigen besonders hohes Potenzial? Welche Kriterien sollten hierfür angelegt werden? Und welche Hürden müssen beseitigt werden, um die Potenziale von Künstlicher Intelligenz zu heben?
Die Fachbereiche lassen sich nach zwei Kriterienpaaren kategorisieren: datenbasierte vs. interaktionsbasierte Aufgaben auf einer Achse und repetitive vs. kreative Aufgaben auf der anderen Achse.
KI beschleunigt
Künstliche Intelligenz bietet nicht nur extrem hohe Produktivitätssteigerungen, sondern auch weitere Vorteile:
- Individualisierte Empfehlungen zur Therapieplanung auf Knopfdruck
- Extrem hohe Geschwindigkeit bei der Auswertung von großen Datensätzen (Big Data)
- Hohe Präzision bei der Erkennung von Strukturen
- Echtzeitempfehlungen während des Eingriffs (Guided Surgery)
- Optimierte Prävention auf Basis von Genomanalysen
Besonders viele Vorteile durch Automatisierung lassen sich in Fachbereichen realisieren, die viele repetitive und datengetriebene Aufgaben zu erledigen haben. The Medical Futurist verweist besonders auf die Dermatologie, Radiologie und Ophthalmologie. Eben diese Bereiche haben besonders mit dem Fachkräftemangel und dem Renteneintritt der geburtenstarken Jahrgänge zu kämpfen. KI stellt hierfür eine Lösung dar. Auch für Indikationen wie Diabetes, Herz-Kreislauferkrankungen oder in der Darmkrebsfrüherkennung stehen bereits Lösungen mit KI zur Verfügung.
Risiken müssen offen angesprochen werden
Doch bringt Künstliche Intelligenz auch Herausforderungen und Risiken mit sich, die adäquat adressiert und offen angesprochen werden müssen. Nur so kann es gelingen, das große Potenzial von KI für die Gesundheitsversorgung zu schöpfen. Hierzu zählen insbesondere:
- Mangelhafte Qualität und Quantität der Daten
- Fehlender Zugang zu Daten
- Fehler im Algorithmus
- Verzerrung und Ungleichheiten
- Manipulierbarkeit
- Verletzung der Privatsphäre und Datenschutz
- Hacking
- Ethische Entscheidungen
- Jobverlust
Für das eigene Unternehmen heißt es, sich mit den Risiken auseinanderzusetzen, die eigene Vision und Strategie daraufhin zu überprüfen und sich selbst einen KI-Kompass zu geben. Dies sind Grundsätze, die für die Entwicklung, Beschaffung und Implementierung von KI-Lösungen gelten − egal ob es sich um ein KI-entwickelndes Universitätsklinikum oder einen Software- und Medizintechnikhersteller handelt. Ein Beispiel ist der Grundsatz für Fairness und Nicht-Diskriminierung. Das heißt, es werden Lösungen entwickelt, validiert und überwacht unter Verwendung hochwertiger, robuster und klinisch relevanter Daten von Patientengruppen mit dem Ziel, potenzielle Verzerrungen und Diskriminierungen aufgrund von Hautfarbe oder Geschlecht in den KI-gestützten Technologien zu erkennen und zu beseitigen.
Die große Kunst wird sein, zu evaluieren, wie KI helfen kann, die Behandlung von Patient*innen im Krankenhaus besser und günstiger zu erbringen.
Das Abwägen von Vorteilen und Risiken ist bei Einkaufs- und Nutzungsentscheidungen ein elementarer Prozess. Ebenso die Erstattungssituation. Die große Kunst wird es sein, zu evaluieren, wie KI dabei helfen kann, die Behandlung von Patient*innen im Krankenhaus besser und günstiger zu erbringen. Damit rückt die Gesamtkostenbetrachtung ins Blickfeld, was sowohl die prä-, peri- und postoperative Phase beinhaltet. Die Smarthospital Initiative in Nordrhein-Westfalen hat hierfür ein gelungenes und kostenloses Excel-Tool entwickelt, um die „KI-Readiness“ von Krankenhäusern zu ermitteln.
Stan Benjamins und Kollegen führten Anfang 2023 eine Analyse der gemeldeten Patente für KI im Gesundheitswesen durch. Sie fanden heraus, dass im Zeitraum von 2015 bis 2021 weltweit 10.967 KI-Patente angemeldet wurden. Der Großteil, nämlich 67 Prozent, wurden beim chinesischen Patentamt registriert, 25 Prozent beim amerikanischen und lediglich 1,5 Prozent beim europäischen.
Das war erst der Anfang
Wenn das Tempo der KI-Entwicklungen in der Medizin nur annähernd so bleibt, wie es aktuell ist, dann wird es nicht mehr lange dauern, bis KI der neue Standard im Arbeitsalltag von Mediziner*innen wird. KI kann offenlegen, was dem menschlichen Urteilsvermögen entgeht – schneller und präziser. Doch warum sollten wir bei all den Risiken die KI vorantreiben? Weil dadurch Zeit frei wird, die Ärzt*innen nutzen können, um wieder eine oft vernachlässigte Kernkompetenz von Medizin zu erbringen: nämlich menschliche Nähe und Fürsorge in der Behandlungsbeziehung zwischen Ärzt*innen und Patient*innen. Denn das Vertrauen eines Patienten in seinen behandelnden Arzt ist die Grundlage, die eigene Krankheit zu überstehen und letztendlich wieder gesund zu werden.
Dorothee Stamm (Government Affairs Director DACH / Geschäftsführerin Medtronic GmbH), Michael Bernhardt (Enterprise Account Director Germany, Medtronic) und Dr. Philipp Schwegel (Strategic Account Manager, Medtronic) 2023. Thieme. All rights reserved.