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Gesundheitssystem in Singapur vor Stresstest

Steigende Lebenserwartung, niedrige Fertilitätsrate

Matthias Müller, Singapur

Das Gesundheitssystem Singapurs gilt als eines der besten der Welt. Es ist effizient, leistungsstark, und der Stadtstaat hat die Gesundheitsausgaben im Griff: Sie beliefen sich 2020 auf etwas mehr als 3500 Dollar pro Kopf; in der Schweiz waren die Ausgaben beinahe dreimal so hoch. Und doch leben die Schweizer deshalb nicht länger als die Singapurer. In beiden Ländern beläuft sich die Lebenserwartung bei der Geburt auf jeweils 84 Jahre. Und bei der Kindersterblichkeit hat Singapur gar die Nase vorn. Von 1000 auf die Welt gekommenen Babys sterben in der Schweiz drei und in Singapur nur zwei im Säuglingsalter.

Der Erfolg des singapurischen Modells blieb auch den Schweizern nicht verborgen. 2010 hatte der damalige SVP-Nationalrat Dominique Baettig seine Motion «Krankenversicherungsgesetz. Einführung des Singapur-Modells» eingereicht. Die Gründe für den Erfolg des singapurischen Gesundheitssystems erklärte Baettig folgendermassen: «Die Trennung von Versicherungs- und Solidaritätsfunktion ist das Erfolgsgeheimnis dieses effizienten und leistungsstarken Modells, das die Eigenverantwortung und das Kostenbewusstsein fördert.»

Immer wieder reformiert

Das singapurische Gesundheitssystem ist seit der Unabhängigkeit 1965 von Grossbritannien immer wieder reformiert worden. Die wichtigsten Eingriffe erfolgten in den achtziger und neunziger Jahren. Auf der Finanzierungsseite führte die Regierung 1984 als ersten von drei Pfeilern Medisave ein. Sie wollte damit die Eigenverantwortung jedes Einzelnen stärken und die finanziellen Belastungen für den Staat senken.

Die singapurischen Beschäftigten sowie die Expats mit ständigem Wohnsitz zahlen zusammen mit den Arbeitgebern jeden Monat zwischen 8 und 10,5 Prozent des Salärs auf ein individuelles Gesundheitskonto ein. Die Zahlungen sind steuerbefreit. Damit häuft sich über Jahrzehnte ein Vermögen an, das dann besonders hoch ist, wenn im Alter die meisten Ausgaben für Krankheiten anfallen. Sobald ein Sparbetrag eine bestimmte Höhe erreicht hat, werden überschüssige Ersparnisse in den Rentenfonds des Patienten transferiert. Nicht genutzte Ersparnisse werden nach dem Tod den Hinterbliebenen vererbt.

Mit ihrem persönlichen Gesundheitskonto können die Arbeitnehmer Routineuntersuchungen zahlen und auch Gesundheitsausgaben ihrer Familienmitglieder finanzieren. Dadurch soll auch der Zusammenhalt in den Familien gestärkt werden. Da die Versicherten auf die eigenen Ersparnisse zurückgreifen, überlegen sie es sich gut, ob sie die Dienstleistungen in Anspruch nehmen müssen. Und sie wollen nach der Behandlung wissen, ob die Rechnungen der Ärzte der Wahrheit entsprechen, denn es handelt sich um ihr Geld. So werden Eigenverantwortung, Kostenbewusstsein und Transparenz gefördert.

1990 erweiterte Singapurs Regierung das Finanzierungssystem. Sie führte als zweiten Pfeiler Medishield ein. Es handelt sich um eine Krankenversicherung für teure Spitalaufenthalte. Sie ist wie Medisave verpflichtend. Diese Reform war eine Reaktion darauf, dass Medisave allein nicht ausreicht, um teure Behandlungen etwa bei Krebserkrankungen zu finanzieren. Aber auch Medishield erinnert die Patienten an ihre Eigenverantwortung, denn sie müssen sich mit bis zu 20 Prozent an den Kosten beteiligen.

Und schliesslich schloss die Regierung 1993 eine Lücke, als sie mit Medifund einen dritten Pfeiler errichtete. Dabei handelt es sich um einen Fonds, der aus Steuergeldern finanziert wird und jenen bedürftigen Personen hilft, deren Ausgaben nicht durch Medisave und Medishield gedeckt sind. Dieser Fonds hat eine Solidaritätsfunktion.

Neben der Finanzierung hat Singapurs Regierung in den vergangenen Jahrzehnten auch die Angebotsseite des Gesundheitssektors reformiert. Die Eingriffe wirken, wie Vergleiche mit der Schweiz zeigen. In der Schweiz gibt es 4,6 Spitalbetten je 1000 Einwohner, in Singapur gerade einmal 2,5. Für diesen niedrigen Wert gibt es vor allem zwei Gründe: Zum einen haben die Hausärzte klare Vorgaben, wann sie Notfallpatienten in ein Spital überweisen sollen, wodurch die Hospitalisierungsquote niedrig gehalten wird. Zum anderen werden Ältere nach Eingriffen schnell in geeignete Pflegeheime überwiesen.

Nun kommen auf Singapurs Gesundheitssystem schwierige Zeiten zu. Die Fertilitätsrate ist so niedrig wie noch nie: Im Schnitt bekommt eine Frau im gebärfähigen Alter gerade noch 1,05 Kinder; um die Bevölkerungszahl konstant zu halten, müsste der Wert etwa 2,1 betragen. Parallel dazu werden die Singapurer immer älter. 1965 belief sich die Lebenserwartung auf 68 Jahre. Wer heute auf die Welt kommt, lebt 16 Jahre länger. Damit ändert sich die Altersstruktur der singapurischen Gesellschaft. 2010 waren 9 Prozent der Bevölkerung 65 Jahre und älter; bis 2030 soll der Anteil auf 25 Prozent steigen.

Fokus auf präventive Versorgung

Die Entwicklung stellt das System auf die Probe. Die Regierung muss künftig deutlich mehr Steuergelder zur Finanzierung des Gesundheitssystems aufbringen. Ohne Anpassungen würden sich die staatlichen Transfers Ende 2030 auf 27 Milliarden Singapur-Dollar, was rund 18 Milliarden Franken entspricht, summieren. 2010 waren es noch 3,7 Milliarden Singapur-Dollar. Damit wird auch der Anteil des singapurischen Staates zur Deckung der Gesundheitskosten steigen. Er beläuft sich noch auf 43 Prozent; der Durchschnitt der 38 Mitgliedsländer der Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung beträgt dagegen bereits 75 Prozent.

Singapurs Regierung reagiert und will nun den Fokus stärker auf präventive Versorgung richten, damit sich die Krankenhäuser auf schwierige Erkrankungen sowie Notfälle konzentrieren können. Und sie wird die Bevölkerung noch stärker an ihre Eigenverantwortung erinnern und das Kostenbewusstsein schärfen.