Gesundheit wird immer teurer – wie viel wollen sich die Länder in Europa leisten?
Trotz unterschiedlichen Systemen leidet das Gesundheitswesen in ganz Europa unter ähnlichen Symptomen. Die Lebenserwartung steigt, und die Kosten drohen aus dem Ruder zu laufen. Was steckt dahinter, und was lässt sich dagegen tun?
Der Volksmund sagt zu Recht: Gesundheit ist ein kostbares Gut. Den verschiedenen Industrie- und Schwellenländern und ihren Bevölkerungen ist die Gesundheit allerdings unterschiedlich viel wert.
Nur die USA geben pro Kopf mehr für das Gesundheitswesen aus als die Schweiz
purchasing power parities (PPP).Quelle: OECD Health Statistics. NZZ / pfi.
Die Polen gaben vor der Pandemie 2019 kaufkraftbereinigt pro Kopf zweieinhalb Mal so viel aus wie die Chinesen. Doch den Briten war ihre Gesundheit doppelt so viel wert wie den Polen. Und den Deutschen drei Mal so viel. Am meisten ausgegeben haben in Europa die Schweizer. Nur in den USA waren die Gesundheitsausgaben nochmals deutlich höher. Das relativ wenig regulierte Gesundheitswesen in den USA mit seinen hohen Preisen (und seiner hohen Qualität für diejenigen, die es sich leisten können) ist allerdings in vieler Hinsicht ein Spezialfall.
Höhere Aufwendungen für die Gesundheit gehen meist mit höherer Lebenserwartung einher – ausser in den USA
Quelle: OECD NZZ / xeo.
Erfreulich ist, dass sich die hohen Ausgaben grundsätzlich auch in einer höheren Lebenserwartung niederschlagen. Die Pandemie hat das Bild vorübergehend stark verzerrt, weshalb hier die Daten von 2019 mit denjenigen zur Jahrhundertwende verglichen werden.
Neun Jahre weniger Lebenserwartung
für ein Drittel der Kosten
In den meistenIn den meistenLändern hat demnach die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt in den vergangenen zwei Jahrzehnten um rund fünf Jahre zugenommen. 2019 war sie in der Schweiz neun Jahre höher als in Lettland, das bloss ein Drittel so viel für Gesundheit ausgab.
Der Zusammenhang ist allerdings nicht so eindeutig (2019 betrug der Korrelationskoeffizient 0,5). Das zeigen die statistischen Ausreisser in der Grafik. Die Spanier und die Italiener etwa werden deutlich älter, als ihre Gesundheitsausgaben erwarten liessen. Obwohl das italienische Gesundheitswesen einen schlechten Ruf hat, aber immerhin billig ist, hatten die Italiener vor der Pandemie gute Aussichten, 84 Jahre alt zu werden – so alt wie die Schweizer. Die Deutschen wiederum gaben fast so viel aus wie die Schweizer, doch ihre Lebenserwartung lag (und liegt) drei Jahre tiefer.
Am schlimmsten geht es den Amerikanern, wo die Suizidrate und der Drogenmissbrauch hoch sind und nicht alle Bewohner über eine Grundversicherung verfügen. Obwohl die medizinischen Leistungen stark überdurchschnittlich viel kosten, warten auf ein in den USA geborenes Baby im Durchschnitt nur 79 Lebensjahre.
Relativ hohe Gesundheitsausgaben
auch in Deutschland
Je reicher ein Land, umso mehr geben seine Bürgerinnen und Bürger für die Gesundheit aus (für 2019 beträgt der Korrelationskoeffizient 0,7). Auch hier sind die USA ein starker Ausreisser nach oben, während die Luxemburger und die Iren im Vergleich zur Höhe ihrer Wirtschaftsleistung relativ sparsam erscheinen.
Auch Deutschland und die Schweiz leisten sich so gesehen ein überproportional teures Gesundheitswesen.
Quelle:OECD
Bemerkenswert ist, dass sich die Gesundheitsausgaben pro Kopf innerhalb der zwei Jahrzehnte in den meisten Ländern fast verdoppelt haben. Die Daten zeigen aber auch, dass Gesundheit nicht so eindeutig ein superiores Gut ist, das mit zunehmendem Wohlstand überproportional stark nachgefragt wird, wie es die Schweizer Erfahrungen der vergangenen Jahre vielleicht glauben machen. Wenn Länder reicher werden, geben sie mehr für Gesundheit aus – aber nicht zwingend überproportional mehr.
Das meiste zahlt der Staat
Wer bezahlt all das? In den allermeisten wohlhabenden Ländern sind es vor allem der Staat und die obligatorischen Versicherungen.
Der Staat und die obligatorischen Krankenkassen finanzieren den grössten Teil
Quelle: OECD
In Nordeuropa mitsamt Deutschland und Frankreich kommt der Staat mit Steuern und Zwangsabgaben für vier Fünftel und mehr der Gesundheitskosten auf. In Italien und Österreich sind es drei Viertel, in Griechenland, Spanien und Portugal, aber auch in der Schweiz sind es eher zwei Drittel. Hier spielen private Zahlungen und Zusatzversicherungen eine grössere Rolle.
Doppelt so viel wie für Bildung
Die Umverteilung istDie Umverteilung istin vielen europäischen Ländern gross, weil die Aufwendungen für Gesundheit im Durchschnitt der EU zu drei Vierteln direkt aus der Staatskasse oder über Lohnbeiträge finanziert werden. Die Schweiz ist hier mit bloss 36 Prozent eine Ausnahme, weil der grösste Teil über unterschiedliche Krankenkassenbeiträge finanziert wird.
Doch der Druck nimmt überall zu. Die Schweiz, Österreich und Frankreich gaben vor der Pandemie je rund 11 Prozent ihrer Wirtschaftsleistung für das Gesundheitswesen aus, Deutschland gar 12 Prozent. Das ist gut doppelt so viel wie die gesamten Ausgaben der öffentlichen Hand für das Bildungswesen.
Mit dem medizinischen Fortschritt und der Alterung der Gesellschaft wird der Kostendruck im Gesundheitswesen weiter steigen. Damit stellt sich absehbar die Frage, wie viel man sich noch leisten kann und will.
Besser als Rationierungen und Qualitätsverzicht sind Effizienzsteigerungen. Die OECD errechnete vor einem Jahrzehnt, dass gut ein Fünftel der Kosten gespart werden könnte, wenn überall das Potenzial zur Effizienzsteigerung genutzt und «best practice» angewandt würde.
Kein normaler Markt . . .
Das Gesundheitswesen istDas Gesundheitswesen istin verschiedener Hinsicht kein normaler Markt. Es ist gezeichnet von Informationsasymmetrien (Menschen wissen über ihren Gesundheitszustand besser Bescheid als Versicherer, der Kranke kann häufig schlecht beurteilen, ob notwendig und gut ist, was ihm der Arzt empfiehlt). Üblicherweise sind die Kosten bei normaler Gesundheit eher gering; wenn ein schlimmer Krankheitsfall eintritt, werden sie aber schnell sehr hoch. Das verlangt nach (obligatorischen) Versicherungslösungen.
Dabei bestehen allerdings grosse Fehlanreize, die dazu führen, dass zu viele Leistungen verschrieben beziehungsweise in Anspruch genommen werden. Krankenkassen haben kaum Möglichkeiten, Anbieter zu bestrafen beziehungsweise auszuschliessen, die eine schlechte Leistung erbringen. Also können sie sich bloss dadurch auszeichnen, «grosszügig» zu sein. Das fördert Doppelspurigkeiten. Im schlimmsten Fall haben Ärzte, Spitäler und sogar Krankenkassenfunktionäre und Patienten die gleichen Anreize: möglichst viele Leistungen abzurechnen.
In Ländern wie Grossbritannien oder Finnland, in denen die primäre Gesundheitsversorgung staatlich organisiert ist und das Gesundheitspersonal öffentlichrechtlich besoldet wird, fehlt es völlig an Wettbewerb zwischen den Leistungserbringern. Der Staat versucht die Kosten mit Rationierungen im Griff zu halten. Teilweise schockierend lange Wartezeiten und kaum Anreize für hohe Qualität oder den Ersatz von stationären durch ambulante Lösungen sind die Folge.
Stärker auf Zusatzversicherungen setzende Systeme wie in der Schweiz oder in Irland, aber auch in Frankreich, den Niederlanden und bedingt in Deutschland sind etwas effizienter. Sie profitieren von mehr Wettbewerb, laufen aber Gefahr, dass die privaten Zusatzversicherungen von den Patienten und den Leistungsanbietern erst recht mehr belastet werden, als eigentlich notwendig wäre.
. . . und trotzdem muss er effizienter werden
Das einfach fatalistisch hinzunehmen, ist keine Lösung. Je reicher und älter Europa wird, umso dringender muss das Gesundheitswesen effizient werden. Die Ansätze liegen auf der Hand: Zentral ist mehr Wettbewerb. Krankenkassen brauchen mehr Spielraum, um kostengünstige Gesundheitslösungen anbieten zu können, die sich je nach Kundenwunsch unterscheiden. Sie sollten bestimmte Ärzte oder Spitäler in Versicherungslösungen inkludieren oder ausschliessen können. Dazu braucht es einen echten Wettbewerb zwischen unterschiedlichen Kassen – keine Einheitskasse. Nur so werden diese auch zu Anwälten ihrer Kunden.
Helfen kann auch Transparenz: Kunden sollten einfach nachvollziehen können, wie erfahren und erfolgreich Ärzte und Spitäler bei der Behandlung diverser Krankheiten und bei Operationen sind. Das könnte die überfällige Bereinigung und Spezialisierung der Spitallandschaft beschleunigen.
Aber auch für die Menschen selbst müssen die Anreize verbessert werden, damit sie mit dem kostbaren Gut der Gesundheitsleistungen behutsamer umgehen. Höhere Franchisen, Prämienverbilligung bei geringer Belastung oder Verzicht auf gewisse Leistungen, Anreize zur Prävention, Zusatzkosten für Zweit- und Drittmeinungen und eine obligatorische Abdeckung, die wirklich nur das Notwendige deckt und bei allem anderen zumindest eine höhere Beteiligung fordert, wären Ansätze dazu.
Es geht nicht darum, die Solidarität mit weniger bemittelten Kranken aufzukünden. Ganz Europa kann sich über einen relativ hohen Gesundheitsstandard freuen. Aber es braucht weniger Prämienschocks und bessere «best practices» im verbürokratisierten Gesundheitswesen. Damit wir uns die sehr gute Versorgung auch in Zukunft leisten können, ohne anderes wie die Bildung zu vernachlässigen oder weiter in die staatliche Schuldenwirtschaft zu rutschen.