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Dr. Amazon

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Dr. Amazon. Birgit Voigt

Amazon ist immer hungrig. Die Gier nach Wachstum hat Gründer Jeff Bezos dem Handelsriesen ins Erbgut geschrieben. Stillstand sei der Beginn des Sterbens. Stetig hält der Konzern Ausschau nach neuen Branchen, die reif für «disruptive Angebote» sind. Vor knapp drei Jahrzehnten startete Firmengründer Jeff Bezos als Online-Buchhändler. Heute ist Amazon, gemessen am Börsenwert, das fünftteuerste Unternehmen der Welt. Millionen Menschen bestellen täglich jede Art von Waren auf der Amazon-Plattform. Ein globales Netz an Warenhäusern, eine Armada von Flugzeugen, Lieferwagen und 1,6 Millionen Angestellte sorgen für Lieferung, oft innert Stunden. Dabei sammelt Amazon über seine Kunden Daten, Daten, Daten. Aus dem Analysieren und Verwalten dieser Informationen hat Amazon ein profitables Cloud-Speicher- und IT-Service-Geschäft geformt.

Amazon ist für seinen Versandhandel bekannt und will nun auch im Gesundheitswesen Fuss fassen.

Seit 2016 arbeitet Amazon daran, auch im Gesundheitswesen Fuss zu fassen. Dabei stehen im Moment die USA im Fokus. In Europa und in der Schweiz stellen sich die Anbieter von Gesundheitsdienstleistungen die bange Frage, wann diese wirtschaftliche Supermacht den lokalen Garten besuchen wird.

Doch wird Amazon im Gesundheitswesen die gleichen massiven Veränderungen bewirken können wie im Handel? Wo steht der Konzern heute mit seinen Initiativen in den USA? Wie geht das Unternehmen vor? Und warum warnen Fachleute, der Konzern werde demnächst seine Gesundheitsangebote in Europa ausrollen?

Welche Chancen Amazon sieht

Der amerikanische Gesundheitssektor allein generierte 2020 rund 4100 Milliarden Dollar an Kosten oder an Umsätzen, je nach Standpunkt [1]. Die Ausgaben sollen weiter im Durchschnitt mit 5 Prozent pro Jahr wachsen. Doch im Vergleich zum ebenfalls teuren Schweizer System erhalten US-Bürger für rund 30 ​Prozent höhere Prokopf-Ausgaben eine wesentlich schlechtere Versorgung [2]. Selbst der Mittelstand mit einer Krankenversicherung durch den Arbeitgeber fühlt sich vernachlässigt und fürchtet die hohen Selbstbehalte bei Behandlungen. In ländlichen Räumen und ärmeren städtischen Quartieren muss die Bevölkerung inzwischen oft ohne hausärztliche Betreuung auskommen. Gleichzeitig übernehmen traditionelle Gesundheitsdienstleister, sowohl in den USA wie in vielen Ländern Europas, nur langsam die sprunghaften technologischen Fortschritte im Bereich von Datenanalysen, künstlicher Intelligenz, Telemedizin und Plattform-Effizienz zur Verbesserung ihrer Angebote.

Amazon sieht deshalb die Chance, in diesem versagenden Markt die Regeln neu zu schreiben.

«Amazon kommt aus dem E-Commerce und hat ein gutes Verständnis der Konsumentenbedürfnisse», sagt Dr. Stefan Weiss, ein auf Digital Health spezialisierter Experte vom Innovationsdienstleister Zühlke. Dabei gehe Amazon schrittweise vor. Dienste würden oft inhouse für die eigenen Mitarbeiter entwickelt und getestet. Was funktioniert, wird auch anderen Unternehmen oder Konsumenten angeboten. Was nicht funktioniert, wird schnell wieder geschlossen.

Kommt Amazon Healthcare bald nach Europa?

Seit Jahren wird darüber gerätselt: Kommt Amazon mit einem Gesundheitsangebot bald nach Europa? Ein erster, einfacher Schritt für Amazon wäre die Übernahme einer in Europa etablierten Versandapotheke. So günstig wie derzeit waren die Aktien der branchenführenden Doc Morris und Shop Apotheke selten zu haben. Doch ein gut informierter Brancheninsider sagt auf Anfrage, derzeit sei «keinerlei» Bewegung bei Amazon erkennbar. Mit der schleppend verlaufenden Einführung des elektronischen Rezeptes in Deutschland sinken die Anreize, im grössten Markt Europas zu investieren. «Im Vergleich mit den USA sind die europäischen Märkte noch stärker reguliert. Das Sammeln und Verknüpfen von Daten ist stärker eingeschränkt und gesetzlich überwacht. Man kann das Geschäftsmodell nicht einfach hochskalieren», listet Stefan Weiss vom Beratungsunternehmen Zühlke die Bremsfaktoren auf.

In der Schweiz ist noch nicht einmal das notwendige Fundament für den Datenaustausch durch kompatible Schnittstellen gelegt. Grundversorgende ächzen unter steigenden Kosten für IT-Dienste ohne dafür relevante Effizienzsteigerungen bei der Patientenbetreuung zu verzeichnen. Für Jonathan Meier ist die schleppende Entwicklung bei der Einführung digitaler Angebote keine Überraschung.

«Im Schweizer Gesundheitswesen dreht sich alles um den Leistungserbringer, nicht um die Patienten. Das haben viele Plattform-Anbieter nicht verstanden.» Sein Unternehmen healthinal bietet Softwareentwicklung und Digitalisierungsberatung an, die auf Akteure in der Schweiz zugeschnitten sind. Er glaubt nicht daran, dass sich hierzulande so schnell neue Plattformen vom Schlage Amazons als treibende Kraft etablieren können: «Die Datenbasis und Struktur im Schweizer Gesundheitswesen ist völlig heterogen, die relevanten Schnittstellen und nötigen finanziellen Anreize fehlen. Mir scheint es unter diesen Umständen utopisch, Plattformen mit breiten, disruptiven Vorteilen für Kunden und Netzwerkbetreiber aufbauen zu können.»

Auch andere IT-Konzerne – Google, Apple, Microsoft – drängen in die Branche. Die Pandemie hat zudem die Start-up-Szene mit Ansätzen für Telemedizin, Selbstdiagnose und Beratungsapps beflügelt. Seitdem die US-Regulierungsbehörden als Reaktion auf die Pandemie in den USA die Beschränkungen für Telemedizin-Beratungen zurückgenommen haben, sind die Angebote stark gestiegen. 2021 flossen gemäss dem Venture-Fund Rock Health 29 Milliarden Dollar in Digital-Health-Start-ups [3], eine Verdoppelung im Vergleich zum Vorjahr.

Die Vision

Amazon will den kundenzentrierten Blickwinkel ins Gesundheitswesen übertragen. Gesunde und Erkrankte sollen Zugang zu Beratung und Versorgung erhalten, wann immer und über welche Kanäle sie es wünschen und brauchen. Eine Gesundheitsplattform soll gemäss der Vision des Internetgiganten für Kundinnen, Kunden, Patientinnen und Patienten Daten zur Vorsorge, Ernährungsberatung oder vom Fitnesstracker sammeln. Die Medikamentenliste und Krankengeschichte sollen verknüpft und abrufbar sein. Es soll ein umfassendes Managed-Care-Angebot entstehen, bei dem sich physische Kontakte mit virtuellen Angeboten verschränken.

Dieser Gegenentwurf zur aktuellen, chaotischen Realität sollte nach Darstellung von Amazon die medizinische Versorgung der Teilnehmenden verbessern bei gleichzeitiger Kostenreduktion. Kritische Stimmen – und es gibt viele davon – warnen davor, dass ein privates, gewinngetriebenes Unternehmen intimste Details über Millionen von Menschen erfährt. Auch in der US-Politik gibt es Widerstand gegen die Vorstösse des Konzerns ins Gesundheitswesen [4]. Trotzdem baut Amazon Healthcare weiter an einer Managed-Care-Organisation nahe an Vorbildern wie dem US-Unternehmen Kaiser Permanente mit seinen Ärztenetzwerken, Spital- und Versicherungsangeboten.

Welche Ideen schon Realität wurden

In diesem Jahr verleibte sich Amazon für 3,5 Milliarden Dollar das Unternehmen One Medical ein. Die Firma bietet gegen Gebühr Zugang zu Hausarztnetzwerken in 19 US-Städten. Dafür schloss Amazon das eigene Unternehmen Amazon Care, respektive zügelte einen Teil des Angebots zu One Medical. Amazon Care versprach telemedizinische Beratung sowie bei Bedarf Hausbesuche durch qualifiziertes Krankenpflegepersonal. Das Unterfangen hatte Mühe mit der Rekrutierung von Fachpersonal und Kunden.

Mit One Medical ersteht Amazon nun ein grösseres, physisches Ärztenetzwerk, das Ende 2021 einen Verlust von 255 Millionen Dollar schrieb. Das Defizit sei nicht von Relevanz, sagt der Aktienanalyst der US-Bank Citi, Daniel Grosslight in einem Medienbericht: «Die Verschmelzung von virtuellen und physischen Gesundheitsangeboten gehört zum Kerngedanken von Amazons Strategie im Gesundheitswesen.» Er erinnerte daran, wie Plattform-Unternehmen denken: «Amazon könnte den Zukauf nutzen, um die One-Medical-Kunden auf Angebote im eigenen Universum aufmerksam zu machen: auf Lebensmittel der Bio-Supermarktkette Wholefoods oder Medikamente aus der eigenen Versandapotheke.»

Die Versandapotheke namens Pillpack kaufte Amazon 2018, inzwischen ist sie umgetauft in Amazon Pharmacy. Sie bietet auch eine eigene Linie von günstigen, rezeptfreien Basis-Medikamenten an.

Wie andere IT-Unternehmen treibt Amazon den Einsatz von sprachgesteuerten Applikationen für Gesundheitsanalysen voran. Nach eigenen Angaben beschäftigt Amazon mehr als 10 000 Fachleute in dem Bereich [5] und 300 Millionen «Smart Devices» [6] seien mit dem Sprachdienst namens Alexa verknüpft. Wie viele Nutzerinnen und Nutzer Alexa schon für Gesundheitsthemen einsetzen, ist unklar. Die Entwicklung von Stimm- und Sprachdiagnostik verlaufe rasant, sagt Stefan Weiss.

Amazon möchte sein System als eine Art Schaltstelle im Privathaushalt einsetzen, über welches ein Beziehungsnetz zwischen Pflegedienstleistenden, Angehörigen, Medizinerinnen und Medizinern sowie Patientinnen und Patienten zusammengehalten werden könnte. Erste Angebote testen in den USA Seniorenheime und Spitäler [7]. Doch es geht nicht so voran, wie sich das der Konzern vorstellt. Wegen wiederkehrender, jährlicher Verluste von über fünf Milliarden Dollar soll die Sprachdivision massiv reorganisiert werden. Den damit einhergehenden Personalabbau kündigte der neue Amazon CEO Andy Jassy Mitte November an [8].

Zentral für die bessere Durchdringung des Gesundheitswesens sind schliesslich die Speicher-Dienste von Amazon Cloud. 2021 lancierte der Konzern für den Gesundheitssektor «Health Lake» als Angebot an Gesundheitsorganisationen, die Patientendaten verwalten und analysieren müssen. Ziel ist, endlich die unstrukturierten Daten in all den Dossiers erschliessen zu können. Diese Angebote richten sich auch an Unternehmen in Europa. Dabei müssen potenzielle Kunden das Risiko abwägen, dass US-Behörden Zugriff auf bei US-Firmen gespeicherten Daten nehmen könnten.

Was hat es bisher gebracht?

Bislang, so muss man festhalten, hat Amazon im US-Gesundheitswesen noch keine grösseren Spuren hinterlassen. Die Euphorie vieler Analysten und Unternehmensberater, Amazon werde im disparaten US-Gesundheitssystem eine Revolution lostreten und dem Patienten und der Konsumentin dabei die Zügel zurück in die Hand geben, scheinen übertrieben.

Amazons Vormarsch ins Gesundheitswesen: ein Überblick über die Aktivitäten.

Die Gesundheitsindustrie ist in jedem Land stark fragmentiert, komplex und hoch reguliert – dabei immer auf ganz unterschiedliche Weise. Weiter fallen Nutzen und Kosten der Digitalisierung nicht bei den gleichen Akteuren an. Der Patient gewinnt möglicherweise, doch der Leistungserbringer verbucht den Aufwand. Schliesslich – und riesig gross – steht die Frage des Datenschutzes im Raum. Selbst wenn Amazon die gesetzlichen Vorgaben erfüllt, wollen Menschen wirklich dem E-Kommerz-Riesen ihre Gesundheit anvertrauen? Die Faktoren bremsen den Aufschwung von Netzwerk-Plattformen im Gesundheitswesen ganz erheblich. Kritiker in den USA weisen zudem darauf hin, dass sich die Amazon-Strategie zum gegenwärtigen Zeitpunkt an besser Verdienende und Firmen richtet, die ihre Angestellten dank medizinischer Zusatzangebote absichern wollen. Sozial Schwache und Rentnerinnen und Rentner, die in den USA über staatlichen Krankenversicherungen Medicaid und Medicare gedeckt sind, bleiben aussen vor.

Trotzdem sollte man Amazon mit seinen tiefen Taschen und der bekannten Ausdauer nicht unterschätzen. «Wir glauben, das Gesundheitswesen steht oben auf der Liste von Erfahrungen, die neu erfunden werden müssen», sagte Neil Lindsay, ein Topmanager bei Amazon Health Services anlässlich des Zukaufs von One Medical vor den Medien.

Dieser Einschätzung dürften viele Menschen zustimmen. Ob ausgerechnet Amazon aber der heilsbringende Reformator sein sollte, darüber streiten sich die Geister.

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