Antoine Hubert: «Wir haben zu viele Ärzte»
Antoine Hubert hat in der Immobilienbranche ein Vermögen gemacht, jetzt möchte der Betreiber der zweitgrössten Schweizer Privatspitalgruppe das Gesundheitswesen reformieren. Vor der nächsten Prämienrunde sagt er der «NZZ am Sonntag», wie man endlich die Kosten senken sollte.
Monsieur Hubert, die Krankenkassenprämien sollen nächstes Jahr wieder über sechs Prozent steigen. Nun treten Sie, ein Unternehmer, der seine Karriere im Immobiliengeschäft begonnen hat und Privatspitäler betreibt, mit einem neuen Versicherungsmodell an, das die Gesundheitskosten senken soll. Wieso glauben Sie, das Ei des Kolumbus gefunden zu haben?
Ich weiss nicht, warum Elon Musk auf die Idee kam, elektrische Wagen zu machen. Wir müssen einfach neue Wege finden, es ist nicht nachhaltig, was im Gesundheitswesen passiert! Und als Anbieter von medizinischen Leistungen haben wir eine Verantwortung, dies zu ändern.
Was läuft denn grundsätzlich falsch, dass wir die Kosten nicht in den Griff bekommen?
Wir sind in einem Teufelskreis. Der Kunde finanziert die Krankenversicherung über Prämien, bekommt aber vom Versicherer fast nichts, wenn er einigermassen gesund ist, ausser vielleicht einen Newsletter jeden Monat. Wird er krank, konsumiert er gratis und will alles sofort und vor der Haustüre. Er wird für Ärzte, Spitäler und die Pharma zum lukrativen Kunden, während die Versicherung zuschauen und zahlen muss. Etwas zugespitzt gesagt: Ab einem gewissen Alter ist der ideale Patient für die Gesundheitsanbieter ein chronisch Kranker, für die Versicherer ist es ein Toter, der keine Kosten mehr verursacht.
Das erklärt aber nicht die steigenden Preise.
Doch, zusammen mit der zunehmenden Alterung der Gesellschaft schon. Dieses System ist auf Umsatz ausgerichtet. Je mehr Leistungen verschrieben werden, desto einträglicher. Die Tarife sind vorgeschrieben. Schuld daran sind weder die Versicherungen noch die Spitäler oder Ärzte. Schuld ist das System, weil es Anreize zur Ausdehnung des Volumens setzt.
Sie wollen gleich das ganze System ändern?
Nein, aber wir haben jetzt mehrere Jahre an einem Angebot gearbeitet, das die Anreize grundsätzlich anders setzt. Die Versicherten des Jurabogens in den Kantonen Bern, Jura und Neuenburg können es bei der Krankenkasse Visana im nächsten Jahr abschliessen. Wir haben es nicht neu erfunden, sondern orientieren uns an Erfahrungen von erfolgreichen Gesundheitsorganisationen wie Kaiser Permanente an der amerikanischen Westküste. Das Ziel ist: gute Qualität zu vernünftigen Preisen.
Das tönt zu schön, um wahr zu sein. Wie wollen Sie das erreichen?
Wir vereinen die Interessen von Krankenkasse, öffentlicher Hand und Leistungserbringern wie Spitälern und Ärzten unter einem Dach, niemand hat die Mehrheit beim Réseau de l’Arc, so heisst unsere neue Gesundheitsorganisation. Wir heben die Trennung auf zwischen dem Zahler und dem Leistungsanbieter, mit dem Ziel einer gut integrierten Versorgung, bei der alle am gleichen Strick zum Wohle des Patienten und der Patientin ziehen.
Jetzt konkret und ohne Marketingsprache: Erklären Sie uns in ein paar Sätzen, was für die Versicherten beim Réseau de l’Arc anders läuft?
Jeder, der diese Versicherung, den Viva-Gesundheitsplan, abschliesst, bekommt einen Hausarzt. Dieser ist sein Gesprächspartner, auch wenn er gesund ist. Und dieser hat die Aufgabe, die Behandlungen aller Leistungserbringer zu koordinieren, auch die mit Spezialärzten. Da er für jeden der ihm zugeteilten Versicherten eine Pauschale erhält, hat er kein Interesse an unnötigen Untersuchungen oder Doppelspurigkeiten. Ausserdem hat er so sowohl Anreiz wie auch Auftrag, seine Versicherten möglichst gesund zu halten, also sich auch um Prävention zu kümmern – etwa mit Vorsorgeuntersuchungen ohne Franchise oder Ernährungsberatung. Der Hausarzt ist Dreh- und Angelpunkt des Systems.
Wo ist das grösste Sparpotenzial?
Beim Fokus auf ambulante Eingriffe. Wir führen in der Schweiz 80 Prozent der Eingriffe stationär durch. Andere Länder sind bei 80 Prozent ambulant. Die medizinischen Möglichkeiten, fast alles ambulant zu machen, existieren. Aber dafür braucht man koordinierte Pflege, um Patienten zu Hause zu begleiten. Ambulant statt stationär: Das sind die «low hanging fruits».
Zur Person
Antoine HubertDer Walliser Unternehmer ist Verwaltungsratsdelegierter des Swiss Medical Network, das in der Schweiz 21 Privatspitäler und 28 medizinische Zentren betreibt. Zudem ist er Mitbesitzer der Beteiligungsgesellschaft Aevis, zu der das Netzwerk gehört. Sein Vermögen machte der 57-Jährige in der Immobilienbranche. Auf der «Bilanz»-Liste der 300 Reichsten wird es auf 450 bis 500 Millionen Franken geschätzt.
Wieso sollen die Ärzte mitmachen? Sie verlieren an Autonomie und Einkommen.
Bei uns ist die Arbeit interessanter als beim normalen Hausarzt, der ja viele Pipifax-Aufgaben hat. Der administrative Kleinkrieg mit der Krankenkasse entfällt, da sie Teil des Ganzen ist, stattdessen wird der Arzt oder die Ärztin zum Mastermind des Gesundheitsparcours seiner Patienten. Mehr Denkarbeit: Das ist die Idee.
Auch Spitäler verdienen ihr Geld mit Operationen. Wenn alle gesund bleiben, wie lasten Sie Ihre Spitäler aus?
Ein leeres Spital ist doch nichts Schlechtes.
Wie bitte? Dann geht es doch unter.
Sie müssen das Ganze anschauen. Das Spital gehört zu unserer Organisation. Und wir werden über die Prämien pro Mitglied bezahlt. Was wir aber sparen im Vergleich zu den Kosten, die mit einem durchschnittlichen Kundenstamm anfallen würden, kommt uns zugute. Dieser Mechanismus gilt bei uns – anders als üblich – auch fürs Spital. So haben wir einen starken Anreiz, Eingriffe ambulant durchzuführen. Dadurch verändern sich wahrscheinlich unsere Spitäler, sie führen wegen der Alterung der Gesellschaft zwar mehr Eingriffe durch, aber haben weniger Betten. Warum sollte dies ein Problem sein?
Die Kritiker stehen schon bereit. Sie sagen im Wesentlichen, mit Verweis auf die USA: der Anreiz, zu sparen, führe zu Wartezeiten, könne den Zugang zu Spezialisten erschweren und generell auf die Qualität der Behandlung drücken.
Okay, wenn die das sagen … nur stimmt es nicht. Kaiser Permanente hat sehr gute Qualitäts-Ratings. Doch was passiert, wenn ein Mitglied nicht zufrieden ist? Dann wird es sich im Herbst eine neue Krankenkasse suchen, und wir verlieren es. Wir stehen also unter erheblichem Druck, sehr gut zu sein.
Kaiser Permanente
Alles aus einer Hand - der Vorreiter
Hohe Qualität und die Kosten im Griff: Das ist der Anspruch der an der Westküste der USA beheimateten Gesundheitsorganisation Kaiser Permanente. Anders als die meisten Konkurrenten vereinigt Kaiser Krankenkasse, Spitäler und Ärzte unter einem Dach. Die Mitglieder zahlen der Kasse ihre Prämien, die wiederum überweist ihren Ärzten und Spitälern eine Pro-Kopf-Pauschale. Die Ärzte haben so wenig Anreiz, überflüssige Untersuchungen anzuordnen, und profitieren, wenn die Mitglieder gesund bleiben. Der Ansatz dient auch der engen Koordination der Behandlungen über alle Akteure hinweg. Patienten sollen möglichst nicht oder nur kurz im Spital behandelt werden. Kritiker werfen Kaiser zwar vor, die Pauschalen führten dazu, dass der Zugang zu aufwendigen Therapien erschwert werde. Dennoch liegt Kaiser bei den Qualitätsbewertungen vorne. So gesehen ist das Sparpotenzial dieses Systems eindrücklich: Kaiser versorgt mit 23 000 Ärzten und 39 Spitälern 12 Millionen Mitglieder, während die Schweiz mit 9 Millionen Einwohnern 40 000 Ärzte und 276 Spitäler hat.
Es kann auch schlimmer herauskommen, jemand stirbt, weil Sie ihn oder sie nicht ans Inselspital geschickt haben.
Wenn wir als Organisation am Ende des Jahres viel mehr verstorbene Patienten zu verzeichnen haben als andere, kommt es zum Massenexodus der Versicherten. Man kann seinen guten Ruf schnell verlieren, und es ist schwierig, ihn wieder zurückzubekommen. Ich wiederhole mich: Wir müssen auf Qualität und Kundenzufriedenheit fokussieren. Wenn es die Hausärzte für angezeigt halten, schicken sie ihre Patienten natürlich an Spezialisten ausserhalb unseres Netzwerks oder an ein Unispital, auch wenn das für uns teurer wird. Sie werden zusätzlich mit einer Bonuskomponente entschädigt, die auch vom Ergebnis der Behandlung abhängt.
Sie bieten Ihre Versicherung am 1. Januar das erste Mal an. Wissen Sie denn überhaupt, ob eine Nachfrage besteht?
Das ist das grosse Fragezeichen. Wir hoffen, dass wir erfolgreich sind, aber nicht zu erfolgreich, weil unsere Organisation erst lernen muss, wie man gesunde Leute begleitet. Wir schätzen, dass wir 10 000 Mitglieder haben werden: 5000, die schon bei der Visana sind, und 5000 von anderen Versicherungen.
Wie hoch ist die Prämie?
Wir dürfen noch nicht darüber sprechen. Sie wird sicher deutlich günstiger sein als die Grundversicherung bei der Visana, je nach Franchise geht der Rabatt bis zu den erlaubten 20 Prozent. Wir möchten aber, dass man uns nicht nur wegen des Preises, sondern auch wegen der Qualität auswählt. Das ist uns wichtig, denn beides geht zusammen.
Haben Sie schon Pläne für andere Regionen, oder gar in grösseren Städten?
Nächstes Jahr sollen zwei, drei zusätzliche Regionen folgen … welche, kann ich noch nicht sagen. Wir möchten überall eine integrierte Versorgung aufbauen, wo unsere Spitalgruppe Swiss Medical Network tätig ist, und sind auch daran, Arztpraxen zu erwerben.
Wie sind Sie eigentlich selbst versichert?
Ich habe eine Grundversicherung und eine private Zusatzversicherung fürs Spital. Sobald unser neues Produkt im Wallis verfügbar ist, werde ich aber wechseln …
… Sie haben also eine Privatversicherung, weil Sie wählen möchten, wer Sie operiert, falls es nötig würde. Mit Ihrem neuen Angebot verzichten die Versicherten genau darauf.
Ich habe eine Privatversicherung, weil ich im Wallis nicht ins Spital von Sion gehen will. Und ich will auch nicht ans Unispital in Lausanne, weil ich die öffentliche Grundversorgung schlecht finde. Mit unserem Ansatz planen wir nicht nur eine kostengünstige, sondern auch eine bessere Grundversorgung.
Vorerst fällt mit Ihrem Ansatz nur die freie Wahl weg, sowohl von Arzt wie auch Spital.
Ja, aber wir bieten nicht nur Ärzte, sondern ein ganzes Netzwerk an Leistungserbringern. Und wer nicht zufrieden ist, kann im November die Versicherung wechseln. Die völlig freie Arztwahl ist doch eine Illusion, denn im Ernstfall gehen Sie meistens dort zum Arzt oder ins Spital, wo Sie gerade sind oder wo es Platz hat. Vielleicht landen Sie ja in der Permanence, wo das Glück und der Andrang darüber entscheiden, wie gut Ihr Arzt arbeitet. Sie haben jedenfalls selten Zeit für ein genaues Assessment, welcher von all Ihren Zürcher Ärzten der beste ist. Die freie Arztwahl ist ein Argument der Lobbyisten, um das heutige System nicht zu verändern.
Viele Gesundheitsreformen sind am Widerstand der Ärzte gescheitert, insbesondere der Spezialärzte, die am heutigen System sehr gut verdienen. Haben die Ärzte in der Schweiz zu viel Einfluss?
Die Ärzte verdienen nicht zu viel, aber wir haben zu viele! Wenn man vergleicht mit Kaiser: 23 000 Ärzte für zwölf Millionen Mitglieder. Die Schweiz hat gegen 40 000 Ärzte für neun Millionen Leute. Sie sind zu sehr mit Bagatellen beschäftigt. In einer integrierten Versorgungsorganisation könnten sie viel an die Pflege, an die Administration delegieren. Sie bekommen mehr Verantwortung, so wird auch der Pflegeberuf attraktiver.
Braucht es im Gesundheitswesen den grossen Befreiungsschlag?
Eher eine Konsolidierung! Es gibt so viele kleine Akteure, Einzelärzte, kleine Spitäler. 26 Kantone und so weiter. Gänzlich überholt ist das Denken in Kantonsgrenzen. So kann man eine Region wie den Jurabogen, der sich über vier Kantone erstreckt, nicht effizient versorgen. Das ist komplett debil.
Haben wir zu viele Spitäler?
Natürlich. Viele Spitäler könnten auch nur ambulant arbeiten, mit vielleicht nur zehn Betten für den Notfall. Selbst die grossen Unispitäler: Wieso brauchen wir fünf davon? Ein Unispital für die Westschweiz, ein Unispital für die Deutschschweiz, jeweils mit mehreren Standorten. Das wäre mehr als genug. In der Westschweiz liegen zwischen dem in Lausanne und dem in Genf nur 50 Kilometer, doch sie konkurrieren um die gleichen, zum Teil hochspezialisierten chirurgischen Eingriffe. Das ist lächerlich!
Ein Politiker, der ein Spital schliesst, wird abgewählt.
Sehen Sie! Die Politik sollte aufhören, sich einzumischen!
Sie haben sicher noch andere kontroverse Reformideen.
Ich finde Natalie Ricklis Vorschlag, auf das Versicherungs-Obligatorium zu verzichten, diskussionswürdig.
Wie bitte? Sozusagen alle Experten, die sich zu Wort meldeten, sagten, eine Abschaffung des Obligatoriums würde die Prämien massiv erhöhen. Treten die Gesunden aus, wird es für die Älteren und Kränkeren teuer.
Zumindest diskutieren sollte man über den Vorschlag, vielleicht lassen sich die Einwände ja entkräften, denn wir brauchen mehr Freiheit im Gesundheitswesen. Wir sind in einer hybriden und deshalb toxischen Situation: nicht staatlich genug, um wie im Sozialismus zu funktionieren. Und nicht frei genug für den Liberalismus. Ich vergleiche es gerne mit den Kantonalbanken: Als sich die öffentliche Hand vor 30 Jahren wegen des Konkurses der Spar- und Leihkasse Thun sagte: «Fertig, die Führung dieser Banken überlassen wir jetzt den Profis», hat dies funktioniert. Heute sind die Kantonalbanken die besten Banken. Auch bei den Spitälern sollte sich die öffentliche Hand von der Führung auf die Eigentümerschaft zurückziehen.
Sollen die Krankenkassen wählen können, mit welchen Ärzten und Spitälern sie Verträge abschliessen?
Sicher! Sonst verschwinden schlechte Ärzte und Spitäler nie.
Wie wissen Sie, ob ein Arzt oder Spital schlecht arbeitet? Es gibt in der Schweiz – anders als in Skandinavien oder den USA – nur wenige standardisierte Qualitätsmessungen.
Die beste Messung für Qualität ist die Freiheit! Wenn die Qualität nicht stimmt, wechselt man zu einem anderen
Anbieter. Die Zahl der Versicherten wird auch bei unserem Projekt das wichtigste Erfolgskriterium sein.
Alain Berset versucht seit Jahren, das Gesundheitswesen zu reformieren – mit beschränktem Erfolg. Was hat er falsch gemacht?
Ich kann nicht antworten, denn ich kenne Alain Berset nicht. Er wollte mich leider nie treffen.
Sie haben den Gesundheitsminister um ein Treffen gebeten?
Ich habe ihn mehrmals angefragt, und er wollte nicht. Er ist der einzige Bundesrat, den ich nicht persönlich kenne.
Was ist Ihr geschäftliches Interesse an der integrierten Versorgung? Sie sind Besitzer mehrerer Privatspitäler und tun dies ja nicht einfach, weil Sie ein guter Mensch sind.
Ein grosser Teil unseres Geschäfts läuft über die Grundversicherung, weil wir in elf Kantonen auf der Spitalliste sind. Wenn wir da mit unseren Spitälern zu Gesundheitsorganisationen wie im Jura werden, die eine regionale integrierte Versorgung betreiben, sehen wir dies als Chance.
Sie haben Ihr Vermögen im Wilden Westen der Immobilienbranche gemacht. Jetzt schlagen Sie sich mit dem zähen Ringen der Politik herum – und ecken mit Ihren Ansichten an. Etwa während der Pandemie, als Ihnen Ihre Kritik an gewissen Massnahmen sogar eine temporäre Sperrung auf Linkedin einbrachte. Stachelt Sie die Kontroverse an?
Ich hatte recht! Am Ende haben alle Covid gehabt, mit oder ohne Impfung, und jetzt ist es kein Problem mehr. Aber egal: Ich sage gerne meine Meinung, das stimmt, auch wenn sie nicht überall auf Beliebtheit stösst. Und etwas zu bewirken, gibt mir schon eine gewisse Befriedigung.