Ambulant oder stationär: Gelingt jetzt der Durchbruch bei der Finanzierung?
2023 steht für das Gesundheitswesen ein tiefgreifender Umbau der Finanzierung auf dem Plan. Ob dabei der Steuerzahler oder die Prämienzahlerin gewinnt, ist noch völlig offen.
Der Referent tat sich schwer mit der Einführung des Themas. Erich Ettlin, Präsident der ständerätlichen Kommission für soziale Sicherheit und Gesundheit, zog vorletzte Woche die absurden Maschinen des Künstlers Jean Tinguely heran, um das Finanzsystem des Schweizer Gesundheitswesens zu beschreiben. Er wolle mit seinen Ausführungen diese Maschine so auseinandernehmen, dass «nur noch eine Rohrleitung bleibt und das Resultat offensichtlich ist».
Ettlin hätte vielleicht auch als Sanitärinstallateur berufliche Erfolge gefeiert. Sein Vortrag, aber vor allem die Arbeit der von ihm angeführten Kommission überzeugten den Ständerat. Die Mitglieder stimmten einer bereits 2019 vom Nationalrat überwiesenen, nun stark überarbeiteten Vorlage zur Finanzreform des Gesundheitswesen zu. 2009 war die Idee als parlamentarische Initiative von Nationalrätin Ruth Humbel in den politischen Prozess gedrückt worden. Dreizehn Jahre später könnte sie tatsächlich Realität werden.
Bei dem Mammutprojekt soll die Zahlungsverantwortung für ambulante und stationäre Akut- und Pflegeleistungen neu geordnet werden. Es geht um mehr als die Hälfte der gut 83 Milliarden Franken, die jedes Jahr im Schweizer Gesundheitswesen umgeschlagen werden. Heute wird jede durch die Grundversicherung abgedeckte Leistung von mehreren Zahlern mit variierenden Anteilen finanziert: Kantone, Gemeinden, Versicherungen, Patienten (siehe Grafik). Es ist ein Wirrwarr, der immer wieder zu Geldverschwendung führt.
Ambulant spart massiv
Das Fachblatt «Die Volkswirtschaft» publizierte letzten Sommer Beispiele zu den unterschiedlichen Kostenfolgen gleicher Behandlungen, je nachdem ob sie ambulant oder stationär erfolgen. So schlagen gynäkologische Eingriffe in der Arztpraxis mit 900 bis 1900 Fr. zu Buche. Stationär lösen die gleichen Leistungen Rechnungen in Höhe von 6000 bis 7600 Fr. aus.
Ambulante Behandlungen bremsen also die Ausgaben für das Gesamtsystem. Doch weil die Kantone heute bei stationären Behandlungen 55 Prozent der Kosten tragen, bei ambulanten dagegen null, sind die Krankenversicherer mit der forcierten Verlagerung in den ambulanten Bereich nicht nur glücklich. Im optimalen Fall profitieren zwar auch die Prämienzahler, sicher aber wächst der von ihnen zu finanzierende Anteil am System.
Seit Jahren plädieren deshalb Vertreter der Krankenversicherungen dafür, die Finanzierung so aufzugleisen, dass sie keine Rolle beim Entscheid spielen soll, wo und wie ein Patient versorgt wird. Sie haben sich Efas, die einheitliche Finanzierung von ambulanten und stationären Leistungen, auf die Fahnen geschrieben. An vorderster Front kämpft Pius Zängerle, Chef des Versicherungsverbandes Curafutura, dafür: «Diese Reform ist das notwendige Fundament, um die adäquate Begleitung von Patienten über ihren ganzen Krankheitsweg aufzubauen.»
Er erhält von überraschender Seite Unterstützung: Bundesrat Alain Berset, der sich mit dem Versicherungsmann bei der ebenfalls seit Jahren hängigen Erneuerung der ambulanten Arzttarife einen Abnützungskrieg liefert, findet, die einheitliche Finanzierung sei eine «wichtige und kluge Reform». Sie biete ein «gewisses wirtschaftliches Potenzial», setze aber «vor allem die richtigen Anreize», sagte Berset im Ständerat zur vorgestellten Reform.
Neu sollen die Kantone einen fixen Anteil in Höhe von 27,7 Prozent des Rechnungsbetrags an die Krankenversicherungen bezahlen, egal ob die Behandlung ambulant oder stationär erfolgte. Eine Verschiebung der Lasten plant der Gesetzgeber nicht. «Kostenneutral» soll die Reform werden.
Nur «kostenneutral»? Einige Vertreter der Versicherungen versprechen Milliarden-Einsparungen. Gesundheitsökonom Harry Telser von der Beratungsfirma Polynomics ist skeptisch. Er hat im Auftrag des BAG versucht, das Sparpotenzial zu eruieren, und ist zum Schluss gekommen, dass sich aufgrund der verfügbaren Grundlagen «keine wissenschaftlich valide Zahl» ermitteln lasse. Die viel genannten Kostendämpfungspotenziale von 1 bis 3 Milliarden Franken einer älteren Studie der Beratungsfirma PWC könnten «mit hoher Wahrscheinlichkeit» nicht erreicht werden: «Es ist eine Finanzierungsreform, damit spart man kurzfristig keine Kosten, man reduziert im besten Fall aber Fehlanreize. Man muss jedoch auch froh sein, wenn es im Zuge der Reform nicht zu Mehrkosten kommt.»
Die leise Warnung dürfte Wasser auf die Mühlen vieler linker Politiker sein, welche den Umbau als Manöver der Krankenkassen abqualifizieren. Die anvisierte Fixbeteiligung dürfte zudem bei einigen Kantonen intern rechte Verschiebungen unter den Zahlern auslösen. In Appenzell Ausserrhoden könnten nach Berechnungen des BAG die Prämien pro Monat um 15 Franken steigen, dafür die kantonalen Ausgaben um 10 Mio. Fr. sinken.
Mehr Steuern in der Waadt
Andersherum könnten es die Waadtländer spüren: Dort sollten die Prämien pro Kopf und Monat um 14 Fr. fallen, der Kanton müsste dafür 130 Mio. Fr mehr ins sein Gesundheitswesen einschiessen.
Diese Verschiebungen goutieren vor allem die Westschweizer Kantonsvertreter noch nicht. Doch grundsätzlich sind inzwischen auch die Kantone an Bord. Jahrelang wehrten sie sich mit Händen und Füssen. Ihre Kehrtwendung hängt mit der Kostenentwicklung der Pflegeleistungen für Betagte zusammen. Seit einer Reform im Jahr 2011 tragen die Kantone den sogenannten «Restkostenanteil», der im Gegensatz zu den Beiträgen der Patienten und der Krankenversicherungen nicht gedeckelt ist. «Sie fürchten sich davor, einen schnellen Ausgabenanstieg bei der Pflege allein schultern zu müssen», analysiert der Gesundheitsökonom Matthias Maurer vom Winterthurer Institut für Gesundheitsökonomie die Lage. Die Kantone fordern deshalb eine Art Tausch. Wenn sie sich an den schnell wachsenden Kosten im ambulanten Bereich beteiligen, dann sollen die Krankenversicherungen einen Teil der ebenfalls ansteigenden Pflegekosten schultern.
Die Finanzreform und die Modernisierung der Arzttarife wären grosse Schritte aus der Blockade im Schweizer Gesundheitswesen.
Dieses Ansinnen hat jetzt der Ständerat im Gegensatz zum Nationalrat in seiner Vorlage übernommen. Die Krankenversicherungen lehnten diese Ausweitung von der Efas über Jahre vehement ab. Inzwischen haben sich die Fronten bei den Mitgliedern von Curafutura aufgeweicht. Doch der 2. Versicherungsverband, Santésuisse, stemmt sich weiter dagegen. In einer Stellungnahme zum Ständeratsentscheid schreibt er, die Krankenversicherungen zahlten bereits heute 2,8 Milliarden an Pflegeheime und Spitex: «In diesem Zusammenhang ist an die 2011 erreichte Neuregelung der Pflegefinanzierung zu erinnern. Das erklärte Ziel war damals, dass die Krankenversicherung nicht schleichend zur Pflegeversicherung wird.»
Lukas Engelberger, Präsident der Gesundheitsdirektorenkonferenz (GDK), ist deshalb nur vorsichtig optimistisch, ob die unterschiedlichen Interessen zusammengeführt werden können. Einige Knackpunkte sind noch ungelöst. «Finanziell ist die Vorlage nicht unbedingt gut für die Kantone. Und es ist nicht einfach einzuschätzen, wie der Nationalrat auf den Einschluss der Pflege reagiert. Aber wenn die Efas und die Tarifwerke für den ambulanten Bereich endlich vorwärtskommen, wären dies wichtige Schritte aus der Blockade im Schweizer Gesundheitswesen.»
Angenäherte Positionen
Die Annäherung der Akteure lässt sich gut mit Thomas Heiniger nachverfolgen. Er habe als ehemaliger Regierungsrat des Kantons Zürich und Präsident der GDK seinerzeit die Reform der Finanzströme abgelehnt, weil sie vor allem mit Sparmöglichkeiten begründet worden sei. Er fand, die Verlagerung von stationären zu ambulanten Behandlungen bringe da viel mehr. Als Präsident der Pflegeorganisation Spitex hat er inzwischen seine Haltung erweitert. «Die einheitliche Finanzierung der verschiedenen Leistungen ist Grundvoraussetzung für ein System mit weniger Verzerrungen im Interesse von integrierter Versorgung.» Die Pflege gehöre aber zwingend mit in dieses System. Dazu müssten die ärztlichen Tarifsysteme modernisiert werden. «Zusammen ermöglicht das den Aufbau von guter, abgestimmter Versorgung, die im Sinne des Patienten funktioniert.»
Damit argumentiert Heiniger erstaunlich ähnlich wie Versicherungschef Pius Zängerle. Im 2023 muss das Parlament nun zeigen, ob es aus der wilden Tinguely-Maschine eine funktionierende Anlage bauen kann.